Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/360

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Freuen wir uns, daß diese Worte nicht am Pfingsttage, sondern am Osterabende gesprochen sind! Am Osterabende sind die zagenden Zehn nicht, noch nicht die Apostel, deren Amt und Würde durch mancherlei Sprachen und Zungen an alle Völker und Leute des Erdkreises Vollmacht empfängt. Die Ausgießung des Geistes an Pfingsten, durch welche den Aposteln die zur Ausbreitung des Reiches nöthigen außerordentlichen Gaben mitgetheilt wurden, ist eine andere, als die, von welcher die Worte unseres Evangeliums sprechen: „Nehmet hin den heiligen Geist!“ Hier gilt es nicht Ausbreitung, sondern Gründung des Reiches, nicht Apostelgabe, sondern Gabe der Seelentröstung und Seelenleitung, – wenn man so sagen darf, nicht Apostelgabe, sondern Priestergabe. Ganz unabhängig von der Pfingstgabe, Geister zu unterscheiden, wird die Gabe des Schlüßelamtes mitgetheilt. Das Wort der Absolution, das „Friede sei mit euch“ der Diener JEsu soll bis ans Ende der Tage ein Wort des Geistes und Gottes sein. Nicht Unfehlbarkeit aller ihrer Worte, aber Unfehlbarkeit des Wortes „Friede sei mit euch“ für alle die, welche so, wie am Osterabend die Jünger, auf Frieden warten, wird den Dienern JEsu mitgetheilt, wenn der HErr spricht: „Nehmet hin den heiligen Geist!“ Eben so drückt dieß Wort des HErrn der Bindung und Bannung aller, die Seines Friedens nicht bedürfen, sondern in eignen Werken oder in Sünden ruhen, Gottes Stempel auf.

 Siehe, so pflanzt der HErr durch Seine Diener Seinen Friedensgruß an allen Menschen fort durch Sein heiliges Amt! Bußfertige, gläubige Seele, wo du seist, das Wort der Absolution, das du vernimmst, ist ein Wort des heiligen Geistes, ist größer, als der Mensch, der es spricht! Unbußfertige, ungläubige Seele aber auch, wo du seist, du bist gebunden durch jedes Wort, welches ein Diener Gottes vom Gesetze spricht. – „Siehe, Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende“, spricht der HErr, nachdem Er Sacrament und Wort, nicht nachdem Er Wundergaben anvertraut hat, Matth. 28, 19. 20. Längst sind die Apostel entschlafen, aber der Welt Ende ist noch nicht vorhanden; bei wem soll denn der HErr sein, wenn nicht bei denen, die der Apostel Botschaft und Sacrament fortpflanzen? die Seinen Segen und die Versöhnung aller Menschenkinder, eine Lösung aller Gefangenen predigen und keinen binden, als den, der sich selbst zuvor gebunden hat durch Sündenliebe und Unglauben? In die Wunde Seiner Seite legst du deine Hand nicht, nicht deine Finger in Seine Nägelmaale; aber Seines Kreuzes Frucht, Seiner Auferstehung Kraft begegnet dir in deiner Absolution, in Gottes Absolution. Nimm sie, wie Er sie gibt, so wirst du der Thomas, der zu JEsu Füßen sinkt und Sünd und Gnade mit Einem Wort bekennt, der anbetend spricht: „Mein HErr und mein Gott!


Am Sonntage Misericordias Domini.
Joh. 10, 12–16.

 VOn einer Heerde redet dieses Evangelium. Die Heerde ist die Menschheit, wie sie zu allen Zeiten von Geburt her ist und sein wird. Eine Heerde ist, wenn sie alleine gelaßen ist, ohne Weisheit, die rechte Weide zu finden, dazu ohne Schutz vor grimmigen Thieren. So ist die Menschheit eine irrende Schaar im Lande Nod, sie weiß nicht, was ihr Bedürfnis stillen soll; sie kennt auch die Gefahren nicht, welche ihr drohen. Sie ist nicht für die Wüste geschaffen, in der sie irrt, nicht für die Erde, auf welcher sie geboren wird, – aber für was sie geboren sei, und wie sie zu dem unbekannten Glücke, zur vollkommenen Genüge gelangen soll, das weiß sie nicht.

 Von einem Wolfe, der die Heerde erhascht und zerstreut, redet unser Text. Etliche erhascht der Feind, die andern suchen ihre Rettung in Flucht und Zerstreuung und werden gerade dadurch erst recht in die Irre geführt, in die Wüste, die keinen Ausweg hat. So ist es auch bei der armen, verlaßenen Menschheit. Das Glück, welches ihre Seele stille, kennt sie nicht, aber eine Furcht, ein Mistrauen ist ihr eingeboren, welches freilich durch die Menge ihrer

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/360&oldid=- (Version vom 1.8.2018)