Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/383

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

in Christo erlösten und durch Seinen Geist geheiligten Kindern sei. Man kann nicht sagen, daß der Sinn des Wortes „Gott ist die Liebe“ auf diese Weise allzusehr beschränkt werde. Gott ist die Liebe in jedem Sinn, im Sinne des Dreieinigkeitsfestes, im Sinne der allgemeinen und der besonderen Liebe, und Er hört deshalb nicht auf, die Liebe im Allgemeinen zu sein, weil in einem Texte, wie z. B. in dem heutigen epistolischen, nur von der Liebe im besonderen Sinn die Rede ist.

 Nun wir denn wißen, von welcher Liebe unser Text spricht, suchen wir die Worte desselben weiter zu verstehen. „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ So lesen wir und es drängt sich uns dabei eine doppelte Frage auf, nemlich erstens die: was heißt in der Liebe bleiben? und zweitens: was heißt bleiben in Gott? Die Liebe, von welcher die Rede ist, ist die Liebe Gottes zu Seinen Auserwählten, also nicht die Liebe der Auserwählten Gottes zu Ihm. Das geht aus dem Verständnis der Liebe hervor, welches wir bereits gewonnen haben. Es ist daher von einem Verharren unserer Seelen in einer fremden Liebe die Rede. Dieses Verharren aber kann nichts anderes sein, als ein Verharren durch Betrachtung und Vertrauen. Man bleibt in der Liebe Gottes, wenn man sie in gläubigem Andenken und freudiger Verehrung behält. Aehnlich ist es mit dem Ausdruck „bleiben in Gott“. Es ist hier nicht von einem Bleiben in Gott die Rede, wie in jener Stelle des heiligen Paulus, in welcher es heißt: „In Ihm leben und weben und sind wir“. Diese Stelle bezieht sich nicht bloß auf die Christen, redet nicht von dem besonderen Verhältnis der Kirche zu ihrem ewigen HErrn, sondern vom Verhältnis der Creatur zu ihrem Schöpfer, von einem Verhältnisse, welches nicht einmal durch die Sünde aufgehoben wird, in welchem sogar die Teufel und verdammten Geister zu ihrem ewigen Ursprung verbleiben müßen. Unser Text hingegen redet von einem Verhältnis der Gemeinde zu Gott, das ihr völlig eigen ist, und seinen Grund nicht in der unabwendbaren und unvermeidlichen Allmacht Gottes, sondern in der Neigung und dem sittlichen Verhalten Seiner Gläubigen gegen Ihn hat. So wie das Bleiben in der Liebe nichts anderes sein kann, als ein Verharren im gläubigen Vertrauen auf die Liebe, die Gott zu uns hat, so ist auch das Bleiben in Gott nichts anderes, als ein Verharren im gläubigen und betrachtenden Andenken an Ihn. Wenigstens kann es unsererseits nichts anderes sein, wenn auch schon der HErr dem gläubigen Verharren des Menschen in seinem Andenken und seiner Anbetung den Segen Seiner besonderen Nähe verleihen und für die Seinen auf diesem Wege näher treten kann und mag, als auf jedem andern. Wir bleiben in Gott durch die Erkenntnis und Erfaßung Seiner Liebe. Wenn wir uns mit dieser Liebe beschäftigen, beschäftigen wir uns mit Ihm; wenn wir sie verehren, verehren wir Ihn selbst; hangen wir gläubig an ihr, so hangen wir an Ihm. Gelingt uns aber das, so ist der HErr Selbst in uns und bleibt in uns in einer andern Weise, als Er in und bei allen Creaturen bleibt, nemlich durch die besondere Ein- und Beiwohnung persönlicher Gnade. So lehrt uns der heilige Johannes, und wenn uns durch dieß sein Wort eine besondere Offenbarung deshalb gegeben wird, so erkennen wir daraus, daß wir, ohne solche Offenbarung dieß herrliche Verhältnis unserer Seele zu Gott selbst dann nicht nothwendig wißen müßten, wenn wir es bereits erfahren. Man kann in der Liebe sein und bleiben, ohne zu wißen, daß man damit in Gott ist und Gott in uns. Wird uns aber darüber eine göttliche Mittheilung gemacht, so empfangen wir über unsere eigene Herrlichkeit und Gnade den rechten Aufschluß, und lernen unseren eigenen Zustand größer ansehen und höher schätzen. Im Lichte des göttlichen Wortes erkennen wir unsere Nähe bei Gott und Gottes Nähe in uns, und wenn auch unser natürlicher Mensch davon nichts fühlt und inne wird, so ruht doch unser Geist in der gläubigen Ueberzeugung, die er aus Gottes eigenem Worte schöpft. Er weiß und erkennt daraus den reichen Segen des Verharrens in der Liebe Gottes.

 Doch ist in dem 16. Vers unseres Textes dieser reiche Segen nicht vollständig vorgelegt, sondern es beschäftigen sich noch die nächsten Verse mit demselben Thema. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt nicht allein in Gott und Gott in ihm, sondern er genießt den Segen seines Zustandes auch dann, wenn der gesammten übrigen Welt unendlich wehe und leid geschieht, nemlich in der Zeit und Stunde des Gerichts. „Darin ist die Liebe bei uns vollendet, daß wir am Tage des Gerichtes Freudigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 007. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/383&oldid=- (Version vom 1.8.2018)