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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Furcht verzehren vor Dem, der da kommt und mit Ihm sein Lohn. In diesem Sinne sagt nun unser Vers: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe.“ Es ist hier allerdings nicht die Rede von der Furcht, die ein Mensch in seinem Leben hat oder haben kann, sondern von der Furcht am jüngsten Gericht. In dem gewöhnlichen Leben hat der Mensch keine Furcht vor Gott; wer Furcht hat, der hat sie entweder in Folge krankhafter Zustände seines natürlichen Lebens, oder aber, und das ist ein seltener Fall, er steht unter der Einwirkung des heiligen Geistes. Auch die Furcht ist eine Wirkung des heiligen Geistes. Wer sich bei gesundem Leben vor Gott fürchten kann, der hat Ursache, Gott für Seine Nähe und Wirkung zu danken. Wenn der heilige Sänger spricht: „ich fürchte mich vor Dir, daß mir die Haut schauert“, so ist das eine Aeußerung, die ihm viele Tausende mit Wahrheit nicht nachsagen können. Man kann auch nicht einmal sagen, daß Furcht immer die erste und geringste Wirkung des heiligen Geistes sei. Die Furcht des HErrn ist wohl, wo überall sie eintritt, der Weisheit Anfang, der Anfang aller wahren Lebensweisheit, aber auf den besondern Wegen, die Gott mit den einzelnen Seelen geht, ist die Furcht oft nicht der Anfang, sondern vielmehr ein Ende und die Vollendung des geistlichen Lebens zu nennen; es sterben viele Christen dahin, ohne auch nur einmal recht lebendig zum Gefühle der Furcht Gottes gekommen zu sein. Schon aus diesen meinen Sätzen, so ferne sie nemlich wahr sind, kann entnommen werden, daß der heilige Johannes die Furcht nicht in jedem Sinne des Wortes verwerfen und mit der Liebe unvereinbar finden kann. Für diese Behauptung gibt es aber noch andere und beßere Beweise. Die Auslegung eines jeden Gebotes in unserem lutherischen kleinen Catechismus beginnt mit den Worten: Wir sollen Gott fürchten und lieben. Während also St. Johannes die von ihm gemeinte Furcht mit der Liebe nicht für vereinbar hält, lebt unsere Kirche der Ueberzeugung, daß wir im Gegentheil Furcht und Liebe vereinigen müßen. Auch ist das nicht bloß eine Ueberzeugung der Kirche, sondern eine Lehre der Schrift, sonst würden wir in derselben sicher nicht Stellen finden, wie die: „Fürchtet den HErrn, ihr Seine Heiligen.“ Wenn die Heiligen Gott fürchten sollen, so sollen Ihn die fürchten, die Ihn lieben, weil nur die Liebe heilig macht. Ist es nun aber so, warum sagt dann der heilige Johannes, daß Furcht nicht in der Liebe sei, sondern die völlige Liebe die Furcht austreibe? Man könnte sagen, es sei ja nur von jenem großen Tage die Rede, die Vereinigung der Furcht und Liebe sei nur für jenen Tag aufgehoben. Es sei eben der Triumph der Liebe, gerade unter den furchtbarsten Umständen die Furcht nicht aufkommen zu laßen, sondern zu ertödten. Andererseits aber kann man sich doch auch wieder nicht denken, daß alle und jede Furcht gerade an dem Tage soll aufgehoben werden, an welchem sie am allermeisten Berechtigung findet, an welchem die Majestät des HErrn sich in ihrer ganzen Größe vor aller Welt entfaltet. Es wird daher hier wie an anderen Stellen der heiligen Schrift und bei unzähligen Stellen gewöhnlicher, menschlicher Schriftsteller gehen, daß man eine Vereinigung der verschiedenen Aussprüche über eine und dieselbe Sache nur auf dem Wege der Anerkennung eines verschiedenen Gebrauches eines und desselben Wortes finden kann. Es muß eine Furcht geben, in Anbetracht welcher der heilige Johannes vollkommen Recht behält, wenn er sagt: „die völlige Liebe treibt die Furcht aus.“ Es muß aber auch eine Furcht geben, welche sich mit der Liebe nicht bloß verbinden läßt, sondern deren Verbindung mit ihr eine von Gott befohlene Sache ist. Unser Text geht uns bei dieser Unterscheidung an die Hand, indem er sagt: „Die Furcht hat Pein, die völlige Liebe treibet die Furcht aus.“ Die Furcht, welche Pein hat, ist mit der Liebe nicht vereinbar; wo die Liebe waltet, muß sie verschwinden. Die Furcht aber, welche Pein hat, ist keine andere, als die Furcht vor Strafe, die Furcht des unversöhnten Gewißens und unreinen Herzens. Dagegen aber wird der Mensch, der von der unendlichen Liebe Gottes in Christo JEsu gezogen und überwältigt ist, nichts desto weniger den Sinn für das majestätische göttliche Wesen nicht verlieren, sondern im Gegentheil wird er je länger je mehr bei der fortschreitenden und sich mehrenden Innigkeit seiner Verbindung mit dem göttlichen Wesen die Tiefe der Heiligkeit Gottes erkennen und sich in immer größerer Ehrfurcht vor seinem HErrn und Gott neigen. Diese Ehrfurcht und Furcht des HErrn wird

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 009. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/385&oldid=- (Version vom 1.8.2018)