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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

hier alles an der Erfahrung, ein wenig Erfahrung gibt Lust und Muth. Wer einmal den Weg betreten hat, von dem wir reden, der weicht nicht mehr von ihm. Die immer neue Führung in die Erkenntnis tiefen Mangels und von dieser zur Erfahrung immer neuer Kräfte der Liebe Gottes ist wie eine Einkehr in ein himmlisches Vaterland, in dem es einem je länger je lieber und je länger, je wohler wird. So helfe uns Gott und laße uns genesen von des reichen Mannes Art und erstarken in der Liebe, die ein göttliches Leben und himmlische Freude ist. Amen.




Am zweiten Sonntage nach Trinitatis.

1. Joh. 3, 13–18.
13. Verwundert euch nicht, meine Brüder, ob euch die Welt haßet. 14. Wir wißen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind: denn wir lieben die Brüder. Wer den Bruder nicht liebet, der bleibet im Tode. 15. Wer seinen Bruder haßet, der ist ein Todtschläger, und ihr wißet, daß ein Todtschläger nicht hat das ewige Leben bei ihm bleibend. 16. Darum haben wir erkannt die Liebe, daß Er Sein Leben für uns gelaßen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder laßen. 17. Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat, und siehet seinen Bruder darben, und schließt sein Herz vor Ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes bei ihm? 18. Meine Kindlein, laßet uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge; sondern mit der That und mit der Wahrheit.

 WEnn alle Evangelien der Trinitatissonntage vom ersten bis zum siebenundzwanzigsten ihren Fortschritt von einem zum andern mit derselbigen großartigen Klarheit machten, wie die Evangelien der zwei ersten Sonntage, so würde niemand dem gegenwärtig allgemein angenommenen Gedanken beistimmen, daß die Textwahl in der zweiten Hälfte des Kirchenjahres eine unvollkommnere sei, als im ersten halben Jahr. Es kann ja niemand leugnen, daß der Fortschritt in dem Evangelium des reichen Mannes und dem armen Lazarus zu dem heutigen von dem großen Abendmahl glänzend schön und großartig ist. Die Ewigkeit mit ihren Freuden und Leiden und die irdische Zeit der Berufung zu jenen Freuden stehen neben einander und zeigen dem Menschen für sein gesammtes ewiges Heil Weg und Ziel; sie bilden mit einander eine Bibel im Kleinen, und gewähren einen Ueberblick des Reiches Gottes vom Anfang bis zu Ende. Eben so schön und hehr ist der Schritt der beiden epistolischen Texte, den sie vor unseren Augen einhalten. Wenn das Evangelium des vorigen Sonntags noch etwas Räthselhaftes in sich hält, und man zweifelhaft sein könnte, was den Armen so selig, den Reichen aber ewig so unglückselig gemacht habe, so bringt uns die Epistel Licht für alles. Moses und die Propheten, auf welche Abraham im Evangelium weist, verkündigen einmüthig jene Liebe Gottes, von welcher die Epistel des vorigen Sonntags spricht: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott.“ Auch zeigt die Epistel in ihrem zweiten Theile jene Liebe, die dem Reichen mangelte, die Bruderliebe nemlich, ohne welche keine Gottesliebe sein kann, deren Abwesenheit zugleich noch eine zweite leere Stelle zeigt, ich meine die, welche von der Liebe zu Gott besetzt sein sollte. Des Armen Seelenheil ist der Ueberschwang der göttlichen Liebe; des Reichen Unglückseligkeit folgt aus dem Mangel der Liebe zu Gott und den Menschen. In innigster Verwandtschaft, beides mit dem Evangelium des heutigen Tages und den Texten des vorigen Sonntags steht auch die heutige Epistel. Das Evangelium redet vom großen Abendmahl, an welchem die geladenen Männer und so viele andere keinen Theil nehmen, es redet von der mühseligen Gründung und Ausbreitung der Kirche

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 012. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/388&oldid=- (Version vom 1.8.2018)