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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

dahinzugeben. Das sagen die letzten Verse unseres Textes, so klar und dabei so ausführlich und eingehend, daß wohl niemand es wagen darf zu leugnen. „Darin haben wir die Liebe erkannt, daß jener, nemlich unser HErr, für uns Sein Leben gelaßen hat.“ Es gibt noch ein Zeugnis der Liebe, die das Leben ist, denn wie der Tod tödtet, so macht sie, die das Leben ist, lebendig, wie das leicht zu beweisen steht. Allein dieß Lebenszeichen der Liebe kann nicht als Beispiel und zur Nachahmung hingestellt werden, weil kein Mensch, so sehr er auch liebe, Leben zu geben vermag. Dagegen aber jenes Zeichen der Liebe, welches in unserem Texte vorgelegt wird und in der Aufopferung des eigenen Lebens und in der eigenen Habe besteht, wird in dem Beispiel JEsu Christi allen zur Nachahmung hingestellt. Wie sehr Er liebte, zeigte sich in Seinem Tode für uns alle. Das sagt auch Johannes und setzt dazu: „Wir sollen auch das Leben für die Brüder laßen.“ Ist aber das die göttliche Forderung an uns alle, was ists denn Großes, wenn auch verlangt wird, daß wir das zeitliche Gut im Dienste der Brüder opfern sollen? „Wer dieser Welt Güter hat, und sieht seinen Bruder Mangel leiden und schließt das Herz vor ihm zu, wie bleibt in dem die Liebe Gottes?“ Es entschwindet also aus dem unbarmherzigen Herzen die Offenbarung der allerhöchsten Liebe, der Liebe Gottes, der unsern großen Mangel sah, Sein Herz gegen die Elenden nicht verschloß, sondern ihnen gab, was sie bedurften. Kein Eindruck, keine Wirkung der Liebe Gottes bleibt in dem unbarmherzigen Menschen, der höchste Lebenserweis des lebendigen HErrn im Himmel in Seiner göttlichen Liebe hat weder Leben noch Liebe entzündet in dem Herzen, das keine barmherzige Bruderliebe übt, und ob auch Leben schon einmal vorhanden gewesen wäre, so entflieht es doch mit der Liebe, mit dem liebevollen Erbarmen, und der Unbarmherzige behält nichts übrig, als den Tod. Aus diesem allen, meine lieben Brüder, habt ihr nun gewis die Ueberzeugung gewonnen, daß die Sätze, welche ich oben von der Liebe aufgestellt habe, ganz in unserem Texte gründen und wir können nun einmal die Anwendung zeigen, welche der Text selbst von unseren Sätzen macht.

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 Was ist natürlicher, was, ich möchte sagen, verzeihlicher, als wenn ein Mensch, der einem andern eine große Wohlthat erweist, auf Anerkennung derselben und Dank für sie rechnet? Wenn er nun aber statt des Dankes Undank erndtet, und von dem Undank, der Welt Lohn, überrascht wird, ist das nicht eben so verzeihlich, eben so natürlich, da man doch seinem Nächsten weniger die Sünde, als Gutes zutrauen soll? Ein anderer Fall von gleicher Würde. Wenn ein Mensch, der früherhin gewandelt, nicht wie er sollte, sich umwendet und einen unsträflichen Wandel beginnt, darf er nicht auf Anerkennung seiner Beßerung rechnen, hat er nicht vollkommen Recht, wenn er vermuthet, man werde sich nun seiner freuen und anfangen ihn zu achten? Wenn er nun aber rein das Gegentheil erfährt, wenn ihm statt Achtung Verachtung, statt Vertrauen Mistrauen, statt Liebe Haß begegnet, soll ihm das nicht verwunderlich sein? Wir wißen es schon lange, uns belehrt die Erfahrung von achtzehnhundert Jahren, daß die Wohlthat des Christentums mit Undank und die Bekehrung der Sünder zu einem heiligen Leben mit Haß bezahlt wird. Bei der immer neuen, ja täglichen Erfahrung sollten wir uns daran so sehr gewöhnt haben, daß wir auch nicht einen Augenblick darüber verwundert wären, und doch bringt uns jede neue Erfahrung neues, schmerzliches Befremden. Wie können wir es da von den Christen der ersten Gemeinden anders erwarten, als daß sie sich überrascht und schmerzlich berührt fühlten, da ihnen die ersten Erfahrungen dieser Art zu Handen kamen? Sie selbst, durchdrungen von der hohen Wohlthat des Christentums, in der täglichen Erfahrung des segensreichen Einflußes trugen ihren eigenen Segen andern mit der Zuversicht und Ueberzeugung entgegen, daß ihnen und ihrem treuen HErrn im Himmel Dank und Ehre werden müßte. Statt deßen aber erndteten sie nur Undank, Zorn und Haß der ganzen Welt, und sie, die Kinder eines guten Gewißens, mußten sich gewöhnen und es sich gefallen laßen, wie Uebelthäter und Verbrecher behandelt und von der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen zu werden. Sie lebten und liebten und man gab ihnen dafür Haß und Tod. Das konnte namentlich für den Anfang gar nichts anderes wirken als Befremden, ja Aergernis. Das gab den heiligen Aposteln Anlaß zu vieler seelsorgerischen Belehrung und Zurechtweisung, das veranlaßte auch den heiligen Johannes, den Gläubigen in unserem 12.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 014. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/390&oldid=- (Version vom 1.8.2018)