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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

darin unser Doppelbild zu schauen, wie wir sein sollen und nicht sind, und wie wir sind, aber nicht sein sollen. Der zweite Theil des Textes zeigt uns den zuerst vorgelegten Christenwandel als eine Saat des Friedens und unangefochtenen Lebens, zugleich aber auch als eine Ursache, um deren willen der Christ, auch wenn er leiden muß, ein gut Gewißen und ein seliges Loos hat; er zeigt uns den schuldlosen friedlichen Christen rücksichtlich seines Verhaltens gegen die Feinde des HErrn und in den Leiden, die man um Seinetwillen zu tragen hat. Man könnte also sagen, der Text zeige den Christen im Leben und Leiden, wenn das nicht eine so weite und allgemeine Bezeichnung des Inhaltes wäre, daß darüber der Charakter des Textes verschwämme. Es hat dieser Text viele gleichartige im Neuen Testamente, und wer da wollte, der würde rücksichtlich seiner die reichste und vollkommenste Zusammenstimmung der heiligen Apostel aus ihren Schriften nachweisen können. Dennoch aber werden wir bei der Ausführung im Einzelnen die apostolische Verschiedenheit Petri und sein großes Hirtentalent deutlich warnehmen können, und unser Herz wird durch die Aehnlichkeit anderer Stellen und den inneren Gleichklang der heutigen Epistel mit diesen nicht bloß im Guten bestätigt, sondern hoffentlich auch auf dem Wege der irdischen Mühseligkeit erquickt werden.

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 Der erste Vers unseres Textes lautet nach Martin Luthers Uebersetzung also: „Endlich seid allesammt gleichgesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, freundlich.“ Anstatt des Wortes „freundlich“ liest man jetzt zufolge überwiegender Zeugnisse „demüthig“, und es läßt sich wohl kaum leugnen, daß bei dieser Leseart der Fortschritt der Gedanken ein schärferer und gehaltenerer ist. Alle Worte, die in dem Verse angeführt sind, bezeichnen Tugenden der Bruderliebe, wie sie von den Gliedern Christi untereinander geübt werden sollen, und ein jedes Wort weiter gibt zu dem herrlichen Bilde des Lebens der Christen untereinander einen Zug der Vollendung mehr. Gleichgesinnt, einerlei wollend, einerlei fliehend, alle Dinge im Lichte desselben Evangeliums gleichbeurtheilend, gleicher Gedanken voll, sind die Glieder der Gemeinde JEsu. Wenn nun aber eine Schaar von Menschen völlig eines Sinnes ist, es fehlt aber die zweitgenannte Tugend, die Luther mit dem Worte „mitleidig“ übersetzt, so gibt es dennoch kein schönes Leben. Das Wort „mitleidig“ ist hier keineswegs in dem Sinne gebraucht, in welchem wir es gewöhnlich brauchen, denn wir verstehen unter dem Mitleid nichts anderes als das Mitgefühl mit den Elenden und Unglücklichen; dieß aber ist in dem vorletzten Worte unseres Textesverses „barmherzig“ mehr vertreten, als in dem, von welchem wir zu reden haben. Dieses Wort bedeutet ungefähr so viel als teilnehmend, mitfühlend, sich allezeit in den Zustand des Bruders versetzend, in ihm lebend. Zu der gleichen Gesinnung gehört eine feinfühlende, die Regungen und Bewegungen des brüderlichen Herzens theilende Seele, und eine solche soll die des Christenmenschen sein. Nicht bloß derselbe Sinn, sondern aus dieser gleichen Ursache die gleichen Regungen und innerlichen Bewegungen sollen sich bei Christen finden. – Die dritte Tugend ist die Bruderliebe, die geistliche Verwandtschaft, welche das Herz mehr als die gleiche leibliche Verwandtschaft durchdringt. Es könnte scheinen, als wären die beiden vorausgegangenen Worte innigerer Natur, als dieses Wort von der Bruderliebe; gleiches Denken, Wollen und Fühlen scheint die höchste Stufe der Einigkeit zu sein. Allein genau genommen liegt in der Bruderliebe doch eine Stufe mehr. Man könnte gleiches denken und miteinander fühlen, ohne daß man doch die innige Nähe, welche irr den Worten „Bruder und Bruderliebe“ dargelegt ist, hätte und fühlte. Es ist mit der Verwandtschaft, und zwar ebenso mit der geistlichen wie mit der leiblichen, etwas ganz besonderes, unvergleichliches, es liegt ein Bewußtsein der gemeinsamen Abstammung und unauflöslichen Zusammengehörigkeit darinnen, welches gar nicht nothwendig mit der gleichen Gesinnung und der gemeinsamen innern Bewegung vereinigt sein muß, welches aber Menschen, die gleichgeartet sind, nur desto unauflöslicher an einander kettet und desto inniger vereinigt. Es ist daher allerdings dieß dritte Wort unseres Textes eine Steigerung. Kann man nun auch die zwei nachfolgenden Worte nicht eben so als Steigerung faßen, sondern nur als nähere Bestimmung des vorigen, so muß man doch auch von ihnen sagen, daß sie dem Bilde innerer Vollendung, welches der Vers entwirft, wesentliche, unentbehrliche Züge beigibt. Barmherzig, demüthig, so lauten diese beiden Worte. Es muß sich also der gleiche Sinn, die

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 033. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/409&oldid=- (Version vom 1.8.2018)