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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gleiche Gemüthsbewegung, die Bruderliebe beisammendenken laßen, auch ohne daß die rechte Barmherzigkeit und der rechte demüthige, niedrige Sinn vorhanden wäre. Der Apostel will aber, daß keinem Christen gegen den andern die herzliche Barmherzigkeit, welche die Verwandtschaft zu begleiten pflegt, und die Willigkeit fehle, dem Bruder mit Ehrerbietung zuvorzukommen, gern hinter ihm zurückzustehen, das geringere Theil und Loos zu wählen. Leuchten diese fünf Tugenden in einem Leben, so mag man wohl sagen, daß ein fünffacher Glanz des Geistes Gottes aus dem Leben strahle, und daß eine jede Tugend mehr den Menschen liebenswürdiger und dem Bilde JEsu ähnlicher mache. Treten aber zu diesen fünf Tugenden der Bruderliebe noch die zwei der allgemeinen Liebe, von denen im nächsten Verse die Rede ist, so leuchtet ein siebenfacher heiliger Glanz des Geistes Gottes von den Menschenkindern und man kann begreifen, wie St. Petrus die Reihe der sieben Tugenden mit dem Worte „endlich“ beginnen, sie also als Ziel und Ende seiner heiligen Ermahnungen vor die Augen der Christen stellen kann.

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 Der 9. Vers unsers Textescapitels heißt: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern dagegen segnet und wißet, daß ihr dazu berufen seid, daß ihr den Segen beerbet.“ Den Inhalt dieses Verses habe ich der allgemeinen Liebe anheimgegeben. Man kann ja doch nicht sagen, daß die Brüder einander Böses thun oder Scheltworte wider einander gebrauchen und es daher nöthig sei, nach jenen herrlichen Ermahnungen zur Bruderliebe, welche der erste Vers unserer Epistel enthält, wie aus den Wolken zu fallen, und dieselbigen Christen, welche der Apostel so hoher Tugenden würdig und fähig geachtet hat, nunmehr vor gegenseitiger Rachsucht und dem gegenseitigen Gebrauche von Scheltworten zu warnen. Man spürt es, daß man mit diesem Verse aus den Pforten des Heiligtums tritt, mitten hinein in die Welt und in den Kampf mit Ungeheuern und mit Kindern der Bosheit, gegen welche man allenfalls versucht sein könnte, mit ihren eigenen Waffen zu streiten. Was bringen die Weltkinder einander, was insonderheit aber dem Christen entgegen, als Böses? Mit welchen Worten bedienen sie uns? Mit Schimpf, mit Scheltworten, wie es allenthalben bekannt ist, wie jedermann auch in unseren Verhältnissen erfahren kann. Und wozu reizt den Christen gegen die Feinde seiner Seligkeit die alte Natur, wenn nicht zur Wiedervergeltung, zur Rache in That und Worten? Ebendeshalb aber stellt sich der eigenen Reizung der heilige Apostel gegenüber und zeigt dem Christen seine heilige Bestimmung und den Weg zur Erreichung derselben. Der Christ ist berufen, den göttlichen Segen zu erben, und beim Ausgang aus der Zeit und im jüngsten Gerichte vor der ganzen Versammlung aller Auferstandenen von seinem Gott und HErrn mit Segen und süßen Worten empfangen zu werden. Welch ein Trost, welch eine Erhebung liegt für den müden Pilger im Jammerthale schon in einem segnenden und anerkennenden Menschenwort; welch außerordentliche Kraft übt ein Wort aus dem Munde eines höher gestellten oder hochgeachteten Menschen auf zagende hinsinkende Seelen aus! Sollte einem im Vergleich damit nicht der göttliche Segen desto mächtiger und erhebender erscheinen? Denkt euch einmal in den Fall, daß der Richter der Welt bei Eurem Eingang in die Ewigkeit zu Euch spräche: „Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen, gehe ein zu deines HErrn Freude“; denkt euch recht lebhaft in den Fall, wie wird es euch schon bei dem Gedanken der Möglichkeit, daß der HErr also zu euch sprechen könnte, überwallen mit Freuden und überschauern mit einer Wonne der göttlichen Gnade. Durch eine solche Erinnerung beabsichtige ich euch faßlicher zu machen und näher zu legen, welch eine Seligkeit der Mensch finden wird, wenn er den göttlichen Segen wirklich ererbt, und er nicht bloß die segnende Rede des HErrn, sondern zugleich die allmächtigen Folgen derselben inne werden wird. Es liegt über alle unsere Gedanken und Ahnungen hinaus, was in den Worten eingeschloßen ist: „Wißet, daß ihr berufen seid, daß ihr den Segen beerbet“. Zu diesem Segen aber gelangt keiner, der Scheltwort mit Scheltwort, und Böses mit Bösem vergilt. Wer gesegnet werden will an jenem großen Tage, der muß sich selbst im Segen üben, und wer dort will eintreten unter die Gesegneten des HErrn, der muß hier selbst ein segnender Priester sein und die Kinder der Welt, die ihn mit Bosheit und Schimpf bedienen, mit treuem, beständigem Wohlwollen, mit freundlichen Segensworten und Segensthaten heimsuchen können.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 034. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/410&oldid=- (Version vom 1.8.2018)