Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/422

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

geknüpft und von ihnen aus erst in die Hauptgedanken hineingeführt wird, und daß die Textwähler wohl nicht daran dachten, auch kaum es hoch angeschlagen und berücksichtigt haben würden, wenn jemand sie darauf geführt und hingewiesen hätte, nur Texte von gleichen oder ähnlichen Hauptgedanken zu wählen. Ist aber auch das nichts geredet und keiner Beachtung werth, so laßet andere beßer den Zusammenhang der Texte zeigen, uns aber getrost zur Epistel gehen und ihren Sinn darlegen, der unzweifelig göttlich und segensreich sein wird.

 Unser Text steht in unverkennbarer Verwandtschaft mit dem epistolischen Texte des vorigen Sonntags. Es wäre ein Leichtes, nachzuweisen, wie einerlei Hauptgedanken in beiden Texten zu Grunde liegen und herrschen. Doch haben diese Grundgedanken eine andere Faßung, und diese Faßung liegt in einem Gleichnis. Der Apostel leitet unsern Text mit den Worten ein: „Ich muß menschlich davon reden um der Schwachheit willen eures Fleisches,“ oder genau am Wort: „Ich muß etwas Menschliches davon reden.“ Das Menschliche aber, welches er meint, ist die Hülle, die er um seine Lehre herumlegt, die Einkleidung derselben in ein Gleichnis. Er will ein menschliches Gleichnis gebrauchen, damit die Römer es desto leichter faßen und verstehen, und die Schwachheit und Schwere des Fleisches sie nicht hindern könne. Das Gleichnis, welches er nun aber braucht, ist eben Freiheit und Knechtschaft, Freiheit und Sclaverei. Die ganze Bevölkerung der Welt, in der apostolischen Zeit konnte in Freie und Sclaven getheilt werden; es gab kaum einen wichtigeren, tiefer in alle Verhältnisse des Lebens eingreifenden Unterschied, als den der Freiheit und der Sclaverei. Und den eben faßt der Apostel auf und wendet ihn auf Sünde und Gerechtigkeit an. Sünde und Gerechtigkeit erscheinen als die großen Herrinnen, die am Markte der Menschheit mit ihren Gebieten zusammengrenzen und sich in die Menschenkinder theilen, so daß jedermann entweder der einen oder andern großen Herrin als Sclave zugehören muß. Es ist also keinem Menschen anheimgestellt, etwas für sich zu sein und ohne alle Beziehung auf Sünde und Gerechtigkeit zu leben; sondern hier gilt nur ein Entweder – Oder. Keiner ist völlig frei, sondern nur von einer der beiden Herrinnen, – keiner aber auch ein Sclave aller Dinge, sondern nur der einen oder der andern Herrin. – Doch ist der Mensch nicht durch ein göttliches Geschick der einen oder der andern Herrin zugetheilt; auch ist es nicht nöthig, daß ein Mensch der Sünde oder der Gerechtigkeit Sclave im ganzen Leben auf Erden bleibe, sondern es ist ein Wechsel möglich. Es ist ein Befreier vorhanden, welcher aus den Banden der Sünde für alle sündenmüden Sclaven freien Abzug und offene Pforten gewonnen hat. Aber die offenen Pforten führen nicht bloß aus dem Gebiet der Sünde, sondern auch in dasselbe, und wenn irgend wer sich schämt, der Gerechtigkeit zu dienen, und den Dienst der Sünde dem der seligen Gerechtigkeit vorzieht, so hindern ihn am traurigen, unheilvollen Rückzug selbst der göttliche Befreier und Seine Engel nicht. Wie Freude vor Ihm und Seinen Engeln ist, wenn die früheren Sclaven der Sünde ins Land der Gerechtigkeit eingehen, so ist auch ein Mitleid und eine Klage bei den seligen Schaaren und ihrem Könige, wenn die armen Schaafe zu den Pforten der Sünde sich wenden. – Da wechselt es nun zwischen den Sclaven; sie kommen und gehen; es gibt ein Sonst und Jetzt.

 Wenn wir den Ausdruck Sonst und Jetzt gebrauchten, so könnte man den zu eng finden. Erscheint völlig richtig, wenn man bloß einen einmaligen Wechsel der Herrinnen annimmt. Da nun aber der Wechsel möglicherweise oft geschehen kann, bis endlich die Ewigkeit einen unveränderlichen Zustand bringt, so scheint Sonst und Jetzt zu eng und deshalb nicht völlig richtig. Allein der Apostel redet eben im Texte nur von einem einmaligen Wechsel, wünscht und will keinen öfteren, hofft, daß wenn einmal der rechte Wechsel geschehen, Dauer und Festigkeit nicht fehlen werde – und nach der Liebe, die in ihm ist, bespricht er nicht, was er nicht will, sondern er betrachtet den Wechsel, der bei den von ihm geliebten Gliedern der römischen Gemeinde bereits eingetreten war, als einen solchen, dem kein zweiter folgen würde.

 Das Sonst und Jetzt der Römer ist klar. Sie waren sonst Sclaven der Sünde, hernach wurden sie durch Christum Leibeigene und willige Knechte der Gerechtigkeit. Oder mit andern Worten, sonst waren sie Heiden, dann wurden sie Christen. Die Heiden, die griechischen und ebenso die römischen jener Zeiten,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 046. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/422&oldid=- (Version vom 1.8.2018)