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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

jeden Menschen angewendet werden kann, so kann man den Sinn der Epistel durch die Anwendung beschränken. Jedenfalls greifen die beiden Texte wohl zusammen und zeigen uns das Christenleben von innen und außen. Will man sich aus beiden das innere und äußere Bild eines heiligen, mit Segen gekrönten Lehrers bilden und es mit allem ausschmücken, was einem solchen ziemet; so liefern unsere Texte allen Stoff dazu – und wir können uns im frommen Lehrer das hehre Vorbild aller Christen vor Augen stellen. Doch wollen wir bei diesem Vortrage nicht zunächst darauf ausgehen, im Lehrer den Christen zu zeigen, sondern wir überlaßen das dem, der es thun will, und legen uns einfach den Inhalt des epistolischen Textes vor.

 Der Text beantwortet uns aber zwei innig zusammengehörende Fragen von großer Wichtigkeit. Die erste Frage ist: „Welche Menschen sind Gottes Kinder?“ Die andere innigst mit der ersten durch die Beantwortung derselben verbundene ist diese: „Welche Menschen haben den heiligen Geist?“ Die gedoppelte Antwort auf die gedoppelte Frage euch vorzutragen, verleihe mir armen Lehrer der heilige Geist Sein Licht und Seine Kraft.

 Die erste Frage ist also diese: „Welche Menschen sind Gottes Kinder?“ Die Antwort auf diese Frage ist leichter und kürzer zu geben, als die auf die zweite, zumal wenn wir der Predigt das Maß nach dem Texte meßen. Es ist, so wie die Sachen in unserm Texte liegen, die erste Frage und ihre Antwort nur wie ein Eingang und eine Vorbereitung für die zweite Frage und deren Antwort. So wollen wir sie faßen, nichts anderes erwarten als was sie demnach geben und bieten soll. Also: welche sind Gottes Kinder? Antwort:

1) die, welche den Geist Gottes haben;
2) die, welche Gottes Erben und Miterben JEsu sind.

 Diese Antwort ließe sich ebensowohl mit Sprüchen unsers Textes geben und ist ja auch so, wie ich sie gab, in Wort und Ausdruck unsers Textes eingehüllt. Im 14. Verse des Texteskapitels lesen wir: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ Ist das im Grunde etwas anderes, als unsre Antwort: „die sind Gottes Kinder, welche den Geist Gottes haben?“ Es fällt mir nicht ein zu sagen, der Ausdruck „den Geist Gottes haben“ und „vom Geiste Gottes getrieben werden“ sei einerlei und völlig gleichbedeutend. Ich hoffe den Ausdruck „vom Geiste Gottes getrieben werden“ auch selbst noch in diesem Vortrage zu erläutern. Aber kann ich vom Geiste Gottes getrieben werden, ohne diesen Geist zu haben? Ist der Trieb des Geistes etwas Aeußeres, wie das Wehen eines Windes, oder etwas Inneres? Wenn aber etwas Inneres, so muß ich doch erst den Geist haben, in mir haben, einwohnend haben, ehe ich, um mit Vers 11 unsers Textkapitels zu reden, von ihm getrieben werden kann. Es wird also wohl ohne Zweifel wahr sein, wenn ich sagte: „die sind Gottes Kinder, welche den Geist Gottes haben“. Gottes Kinder haben ihres hohen Vaters Art, aber nicht von Natur, sondern durch die Wiedergeburt; es ist der Geist ihres Vaters, an welchem sie sich als Seine Kinder erkennen. Unter dem Geiste des Vaters ist nun aber nicht irgend eine von dem Vater geschaffene Regung zu verstehen, die man nach einer Redefigur auch „Geist des Vaters“ nennen könnte, sondern der persönliche Geist Gottes, die dritte Person in der Gottheit, welche von dem Vater und Sohne ausgeht und gesendet wird in die Herzen der Gläubigen auf eine übernatürliche, wunderbare Weise. Daher ist auch von einem Wohnen des Geistes und so vielen andern persönlichen Geschäften desselben in unserem Texte und sonst in der Schrift die Rede. – Laßen wir also alles, wie gesagt ist: Gottes Kinder sind die, welche ihres ewigen Vaters ewigen, persönlichen Geist einwohnend haben.

 „Einwohnend“ sagte ich. Es ist ja nicht von einem vorübergehenden Besuche des heiligen Geistes die Rede, sondern von einer bleibenden, ja ewigen Einkehr, von einer Verbindung, die nach der göttlichen Absicht nie und nimmer gelöst werden soll, Wenn auch der Mensch sie lösen kann durch Frevel seiner Sünde. Denken wir uns nun den Menschen in dieser innern geistigen, ja geistlichen Verbindung, so können wir uns daraus gewis leicht abnehmen, welch eine hohe Würde für ihn darinnen beruht, und wir werden ihm, wenn er sie gefunden, den Namen eines Kindes Gottes mit allem Recht zugestehen dürfen und müßen. Wir werden dann aber auch die zweite Antwort auf unsre Frage: „welche sind Gottes

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 052. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/428&oldid=- (Version vom 1.8.2018)