Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/432

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

kein Beweis, daß Gottes Geist in Gottes Kindern ist. Es solls auch nicht sein. Aber der feste Bund Gottes besteht und hat dies Siegel: „Der HErr kennt die Seinen“, – und ebenso kennen sie Ihn und rufen Ihn und haben in dieser seligen Bekanntschaft und Verwandtschaft für sich Siegel und Gewisheit genug, zu wißen, wem sie angehören und wes Geistes Kinder sie sind.

 Uebrigens wirkt der Geist Gottes nicht bloß in Gottes Kindern den süßen Abbaruf, das kindliche freudige Beten zu dem ewigen Vater, sondern Er gibt ein zweites: dem Ruf der Kinder, die da Vater schreien, antwortet aus dem himmlischen Heiligtum die Stimme des Vaters, welche uns den süßen Kindesnamen zuruft. „Er selbst, der Geist, gibt Zeugnis unserem Geiste, daß wir Gottes Kinder sind.“ So sagt St. Paulus. So wirkt dann der Geist ein Doppeltes: er löst den heiligen Ruf anbetender Kinder vom Herzen dieser und vertritt ihn vor Gott, wenn sie darin unaussprechliche Tiefe finden, und zweitens, ER bringt uns Gottes angenehme Antwort in die Seele. Oder willst du lieber den ersten Ruf, der uns Kinder nennt, Dem zuschreiben, der uns in allem zuvorkommt, der uns zuerst geliebt hat, – und unsern Abba-ruf als Antwort auf den Zuruf des allmächtigen und allerliebsten Vaters nehmen? Oder willst du beides, Gottes Ruf und deine Antwort, deinen Ruf und Gottes Antwort zusammenfallen laßen und darein Eine zusammengreifende Doppelwirkung des heiligen Geistes setzen? Immerhin bleibt doch der selige Ruf und Gegenruf, und der Geist Gottes wirkt doch nach unserem Texte beides, die himmlische Versicherung, daß du Gottes Kind seiest, und Muth und That und Kraft und Glück des kindlichen Gebetes. Wer nun dies Doppelte erfährt, die Versicherung des Geistes von der Kindschaft und die Macht des kindlichen Gebetes, der hat für sich ein doppeltes Zeugnis, daß er ein Kind Gottes und Gottes Geist in ihm sei.

 Wir sind indes mit diesem unserm 16. Textesverse noch nicht fertig. Es fragt sich, worin das Zeugnis des heiligen Geistes bestehe, ob in einer allgemeinen, aus der heiligen Schrift genommenen, durch das Lehramt der Seele zugebrachten und auf sie angewendeten Versicherung, daß alle, die erlöst sind und glauben, Kinder Gottes seien; oder aber in irgend einer besonderen, der Seele unmittelbar eingegebenen und eingesenkten Gewisheit und Zuversicht, einem außerordentlichen Zeugnis. Das Erstere ist von manchen kirchlichen Lehrern, das Andere von solchen hauptsächlich angenommen worden, welche nach dem ihnen geschenkten Zuge auf die Vorgänge des inneren Lebens achteten. Vielleicht sind beide von einander nicht so ferne, als es scheint. Einmal ist das gewis und von beiderlei Christen nicht geleugnet, daß es sich ja um ein Zeugnis und eine Gewisheit der Einzelnen von ihrer Kindschaft und ihrem Gnadenstande handelt. Es muß also auch von keiner bloß allgemeinen, über die Köpfe hingehenden Lehre, welche Leute Gottes Kinder seien, die Rede sein, sondern von einer besondern Gnadenerweisung und einem besondern Zeugnis des heiligen Geistes, worauf sich jene Gewisheit gründen kann. Andern Theils ist aber auch gewis, daß dies besondere Zeugnis von dem allgemeinen Worte Gottes, von der Predigt nicht losgetrennt ist. Lesen wir doch eben in einem öffentlichen Briefe des großen Lehrers Paulus von der Sache und würden ohne seine allgemeine Lehre gar nichts von dieser besondern Gnade wißen, sie nicht ahnen, nicht suchen, nicht drum beten. Ob nun aber der Geist des HErrn die Predigt eines Lehrers oder ein Erbauungsbuch dazu benützt, einem Menschen die große Gnade des Zeugnisses, daß er ein Kind Gottes sei, zuzuführen, oder ob er ihn in der Stille ohne hörbares oder sichtbares Wort daran erinnert, daß er Gottes Kind und Eigentum geworden, und ihm während der Feier des inneren Vorsabbaths oder Sabbaths, d. i. der zum Gebete vorbereitenden Betrachtung, oder dem Gebete selbst, die seligste Offenbarung gibt, die es geben kann, die erstaunlichste Gewisheit verleiht, von der wir reden können, – das ist am Ende Eins. Ohne Amt und äußeres Wort ist keine in der Ordnung des Heiles geschehende innere Erweisung des Geistes. Der Geist des HErrn bringt uns ohne Wort und Mittel am Ende nichts bei. Wie jede Welle zum Meere, jeder Strahl zum Lichte, so gehört jede Gnadenstunde eines Christen zur gesammten Leitung und Segnung der Kirche Gottes; ein etwas aufmerksamer Blick wird selbst bei den unmittelbarsten Offenbarungen und Wirkungen des HErrn Amt und Wort des HErrn in der Nähe finden, wirksam finden. Der Geist des Wortes und

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 056. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/432&oldid=- (Version vom 1.8.2018)