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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die sich gerne selbst richten, im Selbstgerichte aber sich oftmals einer Strenge überlaßen, die eine eben so große Selbstplage, als ungerecht und unweise ist.

 Es muß aber auch noch etwas anderes vorsorglich gesagt werden, und das sei der Schluß und dem Ernste nach Spitze und Schärfe des Vortrags, wie es im Grunde auch Spitze und Schärfe des Textes, ja des ganzen Textes-Themas Hauptsatz ist.

 Der Brief Pauli ist an die Römer geschrieben, also an Christen, an Menschen, von welchen vorausgesetzt werden durfte, daß der heilige Geist in ihnen wohne. Solche Menschen sind nicht mit denen zu verwechseln, welche im puren Naturzustande sind. Der Mensch von Natur hat zwar „etlicher Maßen“ einen freien Willen, kann vermöge deßen auch erwählen, etlicher Maßen ehrbar zu leben, aber er hat weder Willen noch Kraft zum wahrhaft Guten. Ganz anders ist der Christ, der Getaufte, der im Bunde mit Gott und unter den Einflüßen des heiligen Geistes selbst dann steht, wenn er sich vom Ursprung seiner Wiedergeburt entfernt hat, abfällig und der Welt und Sünde dienstbar geworden ist. Der Christ kann das Gute thun, und je mehr der Geist ihm naht, oder gar einwohnt, je inniger und völliger seine Verbindung mit ihm ist, desto mehr kann er in der Kraft dieses Geistes das Gute. Er hat einen neuen Willen in sich und das Vermögen, das Gute zu thun. Aber er kann auch das Böse thun, und es ist keine Stufe des geistlichen Lebens, wo nicht die Wahl zwischen Gutem und Bösem sein tägliches Geschäft, ja seine stündliche, immer wiederkehrende Arbeit wäre. Es winkt ihm zur Rechten ein seliges Vollbringen des Guten, zur Linken die offene Pforte des Bösen. Folgt er dem Verlangen des Bösen, so erstirbt in ihm das neue Leben mit jedem Male, wo es geschieht, um eine Stufe mehr, – und eine hartnäckige, immer entschiedenere Hingabe in die Sünde hat zur Folge, daß der Geist Gottes von ihm weicht und das neue Leben in ihm stirbt. Das ist der Sinn der ernsten apostolischen Worte: „Wenn ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr sterben.“ Das haben auch Tausende leider leider erfahren; sie hatten, was sie brauchten, den guten Kampf als gute Streiter und Helden JEsu zu kämpfen, aber ihr Wille wich von ihrem Ziele – ihr Letztes wurde ärger als ihr Erstes. – Umgekehrt, wenn der Christ den guten Geist in sich herrschen läßt, des alten Menschen Regung tödtet durch die Kraft, die seinem erneuten Willen aus Gottes Unterstützung zufließt, so wird mit jedem neuen Siege sein neues Leben kräftiger und es folgt der Segen jeder Uebung im Guten, es gibt alsdann und wirkt eine Fertigkeit, eine Stärke im Guten, welche man Tugend nennt. Diese aber ist, wo sie ist, Leben. Das ist es, was St. Paulus meint, wenn er schreibt: „Wenn ihr durch den Geist des Leibes oder Fleisches Geschäfte tödtet, so werdet ihr leben.“ St. Paul redet nicht von leiblichem Tod und Leben, sondern von dem geistlichen Tode, dem geistlichen Leben und will uns sagen, daß unser inneres Leben ab- und zunimmt, lebt und stirbt, je nachdem sich unser erneuter Wille vom Geiste Gottes leiten und führen läßt oder auch nicht.

 Da haben wir also eine Antwort auf die Frage: „Welche haben den heiligen Geist?“ Sie lautet: „welche sich vom Geiste Gottes im Kampf des Lebens leiten laßen“, – oder „die ihren erneuten Willen dadurch zum herrschenden werden laßen, daß sie dem vorhandenen, im Worte und Sacramente reichlich wirkenden, das Oel der Lampe vermehrenden, im Herzen schreienden, betenden, zeugenden Geist den vollen Einfluß laßen.“

 Und diese Antwort ist scharf. Ich schließe mit den Worten, mit welchen der Text beginnt: „So sind wir nun, lieben Brüder, Schuldner, nicht dem Fleische, daß wir nach dem Fleische leben sollten.“ Das Fleisch, der Leib der Sünde, die Geschäfte dieses Leibes sind da, regen sich, leben, weben und wirken, so lange wir hier sind. Aber wir haben ihnen keine Rechnung zu tragen, wir sind ihnen nichts schuldig. Ihr Locken und Reizen nimmt oft den Schein an, als wäre ein Recht dabei, als hätten diese unsre Feinde einen Anspruch an uns. Die Sünden des Fleisches und der Genuß der Welt werden von vielen so dargestellt, als verlöre und entbehrte derjenige etwas ihm Zugehöriges, der sich ihnen nicht ergibt, als wäre nicht blos ihr Recht an uns, sondern gar ein uns gehöriges Recht an sie verletzt, wenn wir sie nicht vollführen. Gottes Wort aber zeigt und sagt uns, daß wir dem Fleische keine Schuldner sind. Wir sind Schuldner des Geistes. Der beut und schenkt uns Seine Früchte, der lockt

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 058. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/434&oldid=- (Version vom 1.8.2018)