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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und zieht und treibt uns, übt an uns große Treue, wendet an uns viele Gaben. Da ist dann auch unsre Schuldigkeit, dem vorhandenen, wirkenden Geist unsers HErrn nicht bloß aus Dank, sondern von wegen des Anrechts zu folgen, das Er in Kraft des an uns gewendeten Blutes JEsu an uns hat.

 Ihr seid Gottes Kinder, denn ihr habet seit eurer Taufe den Geist Gottes. Ihr habet vielleicht seit Jahrzehenden Seiner Einwirkung widerstrebt; ihr wäret vielleicht längst reif geworden, von Ihm verlaßen und euerm Fleische überlaßen zu werden. Aber Er hat euch noch nicht ganz verlaßen; Er beut euch täglich wieder den Abba Vater, täglich neu das Zeugnis der Kindschaft, täglich erneut Er euch die Einladung, euch leiten und führen zu laßen. Nun zählet eure Tage, wachet über eure Seele und übergebet mit Begier und Andacht euern Willen Ihm, auf daß Er euer mächtig werde, ihr nicht sterbet, sondern lebet dadurch, daß ihr des Fleisches Geschäfte in euch tödtet! Amen.




Am neunten Sonntage nach Trinitatis.

1. Cor. 10, 6–13.
6. Das ist aber uns zum Vorbilde geschehen, daß wir uns nicht gelüsten laßen des Bösen, gleichwie jene gelüstet hat. 7. Werdet auch nicht Abgöttische, gleichwie jener etliche wurden; als geschrieben stehet: Das Volk setzte sich nieder zu eßen und zu trinken, und stand auf zu spielen. 8. Auch laßet uns nicht Hurerei treiben, wie etliche unter jenen Hurerei trieben, und fielen auf Einen Tag drei und zwanzig tausend. 8. Laßet uns aber auch Christum nicht versuchen, wie etliche von jenen Ihn versuchten, und wurden von den Schlangen umgebracht. 10. Murret auch nicht, gleichwie jener etliche murreten, und wurden umgebracht durch den Verderber. 11. Solches alles widerfuhr ihnen zum Vorbilde; es ist aber geschrieben uns zur Warnung, auf welche das Ende der Welt kommen ist. 12. Darum, wer sich läßet dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle. 13. Es hat euch noch keine, denn menschliche Versuchung betreten; aber Gott ist getreu, der euch nicht läßet versuchen über euer Vermögen, sondern machet, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihrs könnet ertragen.

 VOn dem ungerechten Haushalter redet das Evangelium, die Epistel aber legt uns eine Offenbarung über menschliche Versuchungen vor. Der Haushalter ist ein in der Versuchung Gefallener, der Versuchte ist ein Haushalter, der auf die Probe gestellt wird und in Gefahr ist, zu fallen. Ein Fall, eine Sünde – und die Versuchung: wer kann leugnen, daß zwischen beiden nur ein Schritt ist, daß beide im innigsten Zusammenhang stehen? Darum ist es Weisheit, an dem Tage, an welchem man von dem Fall und der Sünde des Haushalters redet, auch von der Versuchung zu lesen. Es wird sich aus diesen wenigen Sätzen die Beiordnung der Epistel zum Evangelium rechtfertigen. – Desto unaufhaltsamer folgen wir dem Winke und Rufe der Epistel, die Offenbarung von den Versuchungen ins Auge zu faßen, welche sie in sich hält.

 Ehe wir aber hineingehen in die Gänge und Wege des gewaltigen ernsten Textes, faßen wir einen Leitfaden in die Hand und übersehen den Inhalt. Es ist zu allgemein geredet, wenn ich sage: die Epistel gibt eine Offenbarung über Versuchungen, sondern ich muß sagen: Sie gibt eine Offenbarung über die Versuchungen der letzten Zeit. Auch damit habe ich noch nicht den ganzen Inhalt zusammengefaßt; denn der Text gibt nicht bloß Nachricht von den genannten Versuchungen, sondern er zeigt auch deren Absicht, die Absicht der Nachricht und Offenbarung, und gewährt für die erkannte schwere Noth der Versuchung einen reichen und mächtigen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 059. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/435&oldid=- (Version vom 1.8.2018)