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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sei in unsern, d. i. in den christlichen, den neutestamentlichen Zeiten zu suchen. Es heißt ja ausdrücklich, sie seien geschrieben zu unserer Unterweisung oder vielmehr Zurechtweisung, zur Unterweisung der Menschen, mit deren Lebenszeit die Enden aller Aeonen oder Weltzeiten zusammengetroffen seien. Man könnte höchstens die Frage aufwerfen, ob denn wir nach achtzehnhundert Jahren uns mit den Zeitgenoßen des Apostels Paulus zusammenrechnen, uns mit jenen für Zeitgenoßen halten und das Uns des Textes demnach auch auf uns jetztlebende Christen beziehen dürfen. Allein da eine kleine Ueberlegung jedermann überweisen kann, daß die ganze Zeit von Christo bis jetzt die letzte heißt, daß wir entweder Zeitgenoßen der Apostel sein oder hinter dem Ende der Weltperioden leben müßten, was doch ein Unsinn wäre; so fällt alles Bedenken weg, und wir müßen, als wäre der erste Brief an die Corinther an uns geschrieben, die angeführten Worte des Textes auf uns, auf die letzte Zeit beziehen, zu welcher auch wir gehören. Ist aber der Text zu unserer Zurechtweisung geschrieben, so werden wir wohl in Gefahr sein, die alttestamentlichen Typen nicht auf uns anzuwenden, und die Versuchungen nicht zu erkennen, in welchen wir schweben. Es wird uns durch die göttliche Offenbarung Licht gegeben werden sollen und Augensalbe, einzusehen, daß wir am Ende der Aeonen in der Nähe der größten Gefahren und Versuchungen leben.

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 Zwar werden wir nun gewis nicht irre gehen, wenn wir die Versuchungen, von denen die Rede ist, in ihrer furchtbarsten Gestalt und in ihrem größten Maße uns in den Tagen des persönlich hervortretenden Antichristus hereinbrechend denken. Es geht bei dieser, wie bei vielen andern Stellen der heiligen Apostel: sie ist gar nicht völlig erkannt, wenn sie nicht in Beziehung auf die Enden der Zeit, also genau genommen auf die Zeit des Antichristus gesetzt werden. Es wäre vielleicht auch nichts weniger schwierig als die Aufgabe, aus den Zeugnissen der Propheten und der Offenbarung St. Johannis nachzuweisen, daß zur Zeit des Antichristus die angeführten Versuchungen im höchsten Schwange gehen werden. Die ganze Geschichte Israels in Egypten, in der Wüste und bei seinem Einzug ins heilige Land ist typisch und voll einzelner Typen, welche der Geist des Neuen Testamentes auf das große erwartete Ende der allerletzten Zeit deutet. Dennoch aber haben wir die Versuchungen unserer Textesstelle auch auf uns zu deuten. Ist noch kein persönlicher Antichristus da, so sind doch, mit St. Johannis zu reden, viele Antichristen vorhanden und ein großer allgemeiner Abfall, des Antichristus nächstes Vorzeichen und offene Pforte, bereitet sich allenthalben immer mehr. Man darf nur seine Augen aufmachen, um zu sehen, daß wir alle Tage von dem Boten aufgeschreckt werden könnten, der uns das Emporkommen einer greulichen abfälligen Weltmacht und des Antichristus meldete. Wir werden drum wohl und weise thun, wenn wir die fünf Typen der letzten großen Versuchungen uns ins Gedächtnis schreiben und in den Spiegel der schauerlichen Alttestamentlichen Geschichten fleißig sehen, die uns zur Zurechtweisung unsers leicht verirrten Sinnes aufgeschrieben sind. Die elende Gaumenlust und das Vergnügen am fleischlichen Behagen, – die Einladung zu den hurerischen Freuden der Welt, – der Ekel an Gottes allerhöchsten Gütern, selbst am Brote, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben, – und der Unmuth über unsre Führung im Leben und Sterben, über die unmisdeutbaren, göttlichen Weisungen und Befehle ist so gemein, so großartig, so schauerlich, nicht bloß im Leben der Einzelnen, sondern auch der Völker nachzuweisen, daß ich eigentlich nicht einmal euch die kleine Mühe wegnehmen mag, das aufzufinden. Aber nicht bloß das, sondern auch die Versuchung zu der unter uns unglaublichsten Sünde, zur Abgötterei, liegt nahe. Neben der Selbstsucht unserer Tage geht unverhüllt eine schamlose Menschenvergötterung einher, die nach dem Zeugnis der Weißagung ihren Gipfelpunkt in der abgöttischen Verehrung eines Menschen, des Antichristus, finden wird. Seht nur hin auf die abgöttische Verehrung, welche das deutsche Volk einigen abfälligen Schriftstellern, z. B. einem Göthe und Schiller etc. darbringt, – hört, was man allenthalben von diesen todten Verderbern vieler Tausende sagt, und beantwortet dann die Frage, ob das nicht wahre elende Abgötterei der Welt ist, gegen welche die übertriebene Verehrung der heiligen Märtyrer von Seiten der römischen oder griechischen Kirche eitel Heiligtum genannt werden könnte. Wiewohl ja der Cultus, zu deutsch die Verehrung und Anbetung dieser Schriftsteller

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 062. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/438&oldid=- (Version vom 1.8.2018)