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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

nur Beispiele sind, denen noch andere, ja unzählige, an jedem Orte andere zur Seite gestellt worden sind. – Und in diese Versuchungen hineingezogen zu werden, sind alle in Gefahr, die da leben. Die Israeliten lebten nicht bloß, sie starben und fielen trotz aller Wunder Gottes in den Versuchungen, wie der Anfang unsers Textcapitels aufmerksam macht. Ebenso fallen gegenwärtig Hunderte und Tausende trotz der wunderbaren Sacramente in den gleichen Versuchungen und fehlen trotz Mose und den Propheten, trotz JEsu und Seiner Apostel, des einigen Weges zum ewigen Leben.

 Daher haben wir es mit anbetendem Danke zu erkennen, wenn uns die Versuchungen unsrer Zeit offenbart werden und uns zur göttlichen Offenbarung die Absicht derselben vorgelegt wird. Diese göttliche Absicht haben wir im Vorübergehen bereits zum Theile genannt. Sie besteht in unserer Zurechtweisung. Unterweisung reicht in der That nicht hin, um das griechische Wort darzulegen, welches vielmehr das bedeutet, was wir in der Volkssprache mit dem Ausdruck sagen wollen: „den Sinn oder den Kopf zurecht richten“. Dieser Ausdruck schließt, wie der griechische, einen Tadel ein, den nemlich, daß wir den rechten Sinn, das rechte Verständnis verloren haben. Und in der That, für was verliert der Mensch leichter Sinn und Verständnis, als für seine häufigsten, größten Gefahren? Eine Gefahr, die uns im Leben selten begegnet, wird eher bemerkt, als eine, die mit unsern Verhältnissen so verwandt und verwachsen ist, daß sie sich alle Stunden wieder ergibt und ihren verderbenden Blick erhebt. So ist es mit den großen Versuchungen der letzten Zeit. Wenn sie so dastehen, auf dem Papier der Bibel, ja, da sieht man’s wohl, daß es Gefahren sind. Aber – erkennst du sie auch in ihren zeitgemäßen Gestalten? Soll ich mich, wie oben, da ich von Göthe und Schiller redete, damit befaßen, dir zu sagen, wie eine jede der vier andern Versuchungen jetzt aussieht? Dann wird es gehen, wie bei den zwei vergötterten, abfälligen Schriftstellern; du selbst, oder dein nächster Freund wird anfangen, Grenzen zu zeigen, zu widersprechen, zu entschuldigen, zu rechtfertigen, zu loben was zu tadeln ist, dem Bösen andere Namen zu geben, gute statt böse, unschuldige statt anschuldigender – und bald wird die Hülle über dem Greuel des Jahrzehends und Jahrhunderts liegen, daß man keine Versuchung mehr sieht da, wo sie ist, sondern sie ganz wo anders sucht, wo sie dann vielleicht nicht ist. Da ist denn nöthig, daß man die Typen und Weißagungen ansieht, die uns zur Zurechtweisung geschrieben sind. „Dein Wort macht die Albernen weise“, steht geschrieben – und wie die Sonne den Nebel verscheucht, so kann, wer sich nicht verhärtet, auch die Erfahrung machen, wie Gottes Wort die Lüge zertheilt und die Wahrheit, also auch die wahren Versuchungen der Zeit enthüllt. An den Redlichen wird Gottes heilige Absicht bei Offenbarung der Versuchungen in ihrer ersten Hälfte nicht unerreicht bleiben.

 Und eben so wird es mit der zweiten Hälfte der göttlichen Absicht gehen. Die erste Hälfte ist in dem Worte Zurechtweisung ausgesprochen, die zweite aber finden wir in dem 12. Verse. Die Typen sind, sagt Paulus, zu unsrer Zurechtweisung aufgeschrieben, auf daß, „wer sich dünken läßet, zu stehen, zusehe, daß er nicht falle“. Freilich! Was hilfts, den Abgrund sehen, wenn man doch hineinstürzt, – die Falle bemerken, wenn man sich doch fangen läßt, – die Versuchung als Versuchung zu erkennen, wenn man ihr nicht ausweicht oder in ihr nicht obsiegt? Wahrheit zur Rettung, zur Seligkeit, zur Heiligung will der HErr. Er führt nicht bloß zu Seinen Pforten, sondern bis an Sein Herz und in Seinen Schooß. Die zweite Hälfte der Absicht muß vornemlich erreicht werden; sie kann es ohne die erste Hälfte nicht; aber wird sie trotz der ersten nicht erreicht, so wächst nur unsre Schuld, unsre Verdammnis, unsre ewige Strafe. – Also auf die zweite Hälfte laßt uns sehen.

 „Wer sich dünken läßet, er stehe“ – wer ist der? Läßt sich jemand dünken, er stehe, wenn er liegt? Es kommt wohl auch vor; aber davon redet der Apostel nicht, sonst würde er nicht den dünkelhaften Menschen zur Vorsicht ermuntern, daß er nicht falle. Da würde er zum Aufstehen ermahnen. Es ist daher allerdings von Leuten die Rede, die stehen, – die es aber wißen, denen ihr Stehen zum Dünkel und Hochmuth gereicht. Solcher Menschen aber sind viele, mehr als es zugeben, mehr als es wißen; ihrer sind viel, so daß die Ausnahme klein wird, daß ich gerne statt viele „alle“ sage, statt „ihr“ vielmehr „wir“, auf daß sich recht viele von uns prüfen und der Versuchung entrinnen, welche im Dunkeln sähet und bei Nacht und Nebel wie ein Dieb hereinbricht.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 063. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/439&oldid=- (Version vom 1.8.2018)