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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Dünkel blendet. Darum ruft Paulus: „Wer sich dünken läßt, er stehe“, wem sein Stehen zum Hochmuth gereicht, der „sehe zu“, der mache die Augen auf, weit auf, – er wehre sich gegen Nacht und Nebel, gegen Band und Binde, gegen Glas und Brille, er sehe zu. Es ist ein Auge im Menschen, welches leicht zu blenden ist, – das ist wahr. Aber es kann auch wach gerufen werden durch Gottes Wort. Hier ist eine Blindheit, die Gott nicht will, die geheilt werden kann, die schnell weicht, wenn Christus vorübergeht, Sein Wort erschallen läßt, und wenn zumal der blinde Bertimäus ruft: „HErr, daß ich sehen möge“. Da fallen die Schuppen, da sieht man die Wege, die Steine, die Gefahren –“ da weicht die Gefahr.

 Er sehe zu, daß er nicht falle. Sehen, daß man nicht falle, was ist das? Rücksicht – oder Vorsicht? Das ist Vorsicht, obschon auch zuweilen einmal Rücksicht hilft. Summa: Vorsicht will der HErr. In der letzten Zeit, bei ihren großen, vielen Gefahren und Versuchungen, bei so viel Blendwerk des Teufels ist Vorsicht, ein heiliger, vorsichtiger, wacher, kluger Wandel nöthig; den Aufrichtigen läßt es Gott gelingen; aber Seine heiligen Aufrichtigen sind vorsichtig. Aufrecht, vorsichtig – so geht man am Ende der Aeonen dem Teufel aus den Klauen, dem frommen HErrn entgegen. Und das will ER Selbst, der HErr, – deshalb zeigt Er die Versuchungen und dazu die belehrenden Typen und Vorbilder; Er will zu sich die armen Versuchten retten – darum ruft Er mit den Stimmen Seiner Apostel in die Welt hinein. Auf die Ohren, Brüder, daß sich die Augen öffnen und der Fuß vom Fehltritt, der ganze Mensch vom Fall bewahrt bleibe und vor dem Abfall und vor der Verdammnis!

 Da stehen wir, aufgeschreckt vom Rufe Gottes zur Vorsicht, vor den Abgründen der Zeit. Ach, wir erkennen es zuweilen, daß wir in Versuchungen gehen und daß wie Luft die Anfechtung um uns her schauert. Da scheuen und schauern und beben und weinen und wünschen wir, aufgelöst, daheim, geborgen zu sein. Die große Sehnsucht will uns statt muthig traurig machen. Schwert, Helm und Panzer lasten, und – wir sollen kämpfen. Vorsicht erwacht, Muth entschläft. Da bedürfen wir Ermuthigung und Trost. Hast Du keinen, Menschenhüter? Gib mir Ermuthigung und Trost, daß ich mich faße und vorsichtig nicht bebe und ermatte, sondern wieder stark werde und kämpfe! So spricht die Seele – und der Text antwortet, bringt Erhörung – und den Versuchten der letzten Zeit Trost. Der ganze 13. Vers, des Textes ist Trostes voll.

 Trost muß man kurz und faßlich haben. Man muß sich an ihm halten und ihn gut merken können. Drum wohlan: Mein schöner letzter Textesvers enthülle seinen süßen Reichtum und gebe mir ihn in die Hand für mich und euch. – Wie ist der Trost? – Dreifach ist er. Die ihr in Versuchungen wandelt und es wißet und fühlet, höret den dreifachen Trost: Eure Schwachheit ist berücksichtigt:es hat euch noch keine als menschliche Versuchung betroffen“, sagt St. Paul. Menschliche, d. i. der menschlichen Schwachheit angemeßene, oder doch mit Rücksicht auf die Gefahren menschlicher Schwachheit zugelaßene.

 Zweitens: Die euch geschenkten Kräfte des heiligen Geistes und deren Maß sind nicht vergeßen.Gott ist getreu, der euch nicht wird laßen versucht werden über euer Vermögen“. O süße Worte! „Vermögen“: von Natur vermagst du nichts, darum ist von Vermögen die Rede, welches dir Gott beigelegt hat. „Er legt uns eine Last auf, aber Er hilft uns auch“.

 Drittens: Nichts währt ewig, als die Gnade; die Versuchung bekommt einen Ausgang, daß mans ertragen kann. „Er läßt euch, tröstet der getröstete Paulus, Er läßt euch nicht über Vermögen versucht werden, – sondern Er wird schaffen zugleich mit der Versuchung auch den Ausgang, daß ihr’s könnet ertragen.“ Ja, Amen. Da sieht man den Antichrist und die grauenvollen letzten – und alle Versuchungen – und den Ausgang, den Christus schafft, wenn Er kommen wird, den Antichrist zu vertilgen, und vorher in allen unsern geringeren Versuchungen.

 Ist das Tröstung oder nicht? Faß es, so hast du, was du brauchst. Theil dir den letzten Vers in die genannten drei Theile – so ist der Text selbst Predigt, kenntliche, merkliche, mächtige, tröstliche Predigt, und ich denke, ich brauche dann nur noch Eins zuzusetzen, damit der Trost voll sei.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 064. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/440&oldid=- (Version vom 1.8.2018)