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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Meinung euch jedoch erst aus der Antwort klar werden kann. Die Fragen sind folgende:

1) Wer hat keine geistlichen Gaben?
2) Wer kann sie haben?
3) Welcherlei sind sie?
4) Wozu werden alle verliehen?
5) Welcherlei sind insonderheit die Charismen oder die Gnadengaben?
6) Worin ist die Verschiedenheit der Begabung der Christen begründet?

 Zu der Manchfaltigkeit der Theile verleihe uns jetzt der HErr Kürze und Deutlichkeit und Klarheit, euch aber Lust und Freudigkeit, hinzunehmen, was euch heute Gottes Wort darbeut.


 Wer hat keine geistlichen Gaben?“ Meine Antwort ist: die Heiden haben keine geistlichen Gaben. Die Wirkungen des heiligen Geistes sind sehr verschieden, denn Er wirkt in der Natur und im natürlichen Zustande der Menschen, eben so wirkt Er aber auch besonders in dem Reiche der Gnaden und in der neuen Creatur, dem beßeren Theile des wiedergeborenen Menschen. Der Geist schwebte über den Waßern der Schöpfung und gab allen einzelnen Geschöpfen Maß, Form und Verhältnis; Er ziert und schmückt auch jetzt noch alljährlich die Natur; der „Hauch des göttlichen Mundes“ gibt, wie im Anfang so jetzt noch allen Dingen ihre Anmuth. Eben so wirkt der Geist im natürlichen Menschen. Er schuf die Gesetze, in denen wir denken, die wir nicht verlaßen und nicht verlaßen können, ohne die Bahn der Wahrheit zu verlieren. Er ist der Meister aller Sprachen, der mit dem Sinne Laut und Ausdruck wunderbar vereinigt. Er ist es, der „die Rede kennt“, der wahre Sprach-Meister der Welt. Er lehrt Zeit und Raum faßen und begrenzen, der Formen Schönheit, der Farben Glanz. Und was alles kann und muß man Ihm sonst noch im Reiche der Natur und im Leben des natürlichen Menschen zuschreiben. Aber diese allgemeinen, den Heiden, Juden und Christen gemeinsamen Gaben, diese Wohlthaten der allgemeinen Liebe des heiligen Geistes nennt man nicht „geistliche Gaben“. Unter diesen versteht man Gaben der besondern Liebe des heiligen Geistes, die nur in Christo JEsu und nur denen gegeben werden, die sich mit Christo verknüpfen und ins Reich der Gnaden des Königs JEsus einführen laßen. Die Heiden, die außerhalb Christo sind und bleiben, haben keine geistlichen Gaben. Alles Herrliche, was an ihnen erkannt und gepriesen wird, gehört nicht zum Schatze der geistlichen Gaben, welche kein Heide, überhaupt keiner haben kann, der sich zu Christo nicht sammeln läßt. Man kann den Heiden, den alten Römern, Griechen, Aegyptern und Indern alles laßen, was ihnen der Geist gegeben hat, – aber die Gebiete und Schätze des Geistes vermengen und vereinen darf man nicht. Kein Heide, kein ungläubiger Jude oder Muhammedaner kann geistliche Gaben empfangen, so lange er ist und bleiben will, was er ist. Das die erste Antwort auf die erste Frage. Darum sagt St. Paulus Vers 2 zu den Corinthern: „Ihr wißet, daß ihr Heiden waret, dahingetrieben zu den stummen Götzen, wie ihr geführt wurdet.“ Die Welt vor dem Zeitalter der Corinther und die Welt um sie her war ein treibender, führender, mächtiger Strom einer Tradition, welcher sich die Menschen, wie sie gewöhnlich waren, nicht entziehen, nicht erwehren konnten. Alles strömte zu den Götzen – alles folgte dem Zuge – auf dem breiten Wege der Heiden, im Strome des Götzendienstes: da war kein heiliger Geist, der besondere Gnaden und Gaben austheilte. Auch die Corinther hatten in ihrer heidnischen Zeit nichts Geistliches – waren bettelarm an Gütern eines höhern Lebens und wußten es nicht. Heiden und geistliche Gaben – das sind geschiedene Gebiete. So lange man dem Fluße heidnischer Traditionen folgt, hat man keine Geistesgaben.


 Damit ist nun die Antwort auf die zweite Frage nicht bloß vorbereitet, sondern eigentlich schon gegeben. „Wer kann die geistlichen Gaben empfangen oder haben?“ fragten wir, und die Antwort ist: „Die Christen können sie haben“. Ich hätte die Frage stellen können: „Wer hat sie?“ und die Antwort: „die Christen haben sie“. Ich würde damit nichts Falsches gesagt oder gesetzt haben. Aber durch die unbestimmtere Faßung wollte ich vor Eure Ohren wie eine Warnung bringen; ihr seid ja Christen, irgendwie, in irgend einem Maße; aber müßt ihr deshalb mit geistlichen Gaben gesegnet sein? Könnet

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 067. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/443&oldid=- (Version vom 1.8.2018)