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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zum Gemeingut aller macht und so mit dem Zungenredner nach einem Ziele ringt. Denn der Zungenredner vereinigt in sich selbst, was Gott bei Babel trennte, die verschiedenen Sprachen; der Hermeneut thut durch die Auslegung den gleichen Dienst zum Besten aller. Beide zeigen, wie Gott einst allgemein die Gedanken und Sprachen aller Völker versammeln wird zur Einigkeit des Geistes.

 Da habt ihr, meine theuern Brüder, des Einen Geistes mancherlei Charismen, so weit sie in unserm Texte aufgeführt sind, zusammengefaßt in vier Classen, und meine fünfte Frage ist damit beantwortet.


 Wie aber der letzte Vers unsers Textes in dem engsten Zusammenhang mit dem vorausgegangenen steht und nur Einen Schlußgedanken für sie bildet; so ist auch meine letzte Frage: „Worin ist die Verschiedenheit der Begabung der Christen begründet?“ mit der vorausgegangenen fünften Frage eng verbunden und nur ein Schlußstein von und zu ihr.

 Während ich nun zur Beantwortung meiner letzten Frage schreiten will, ist es mir, als merkte ich euer etlichen einen Mangel an Befriedigung ab. Die Mehrzahl unter euch harrt, wie gewöhnlich, mit Sehnsucht auf den Schluß des Vortrags: was kümmert sie die Rede der Weisheit und der Erkenntnis; sie will baldmöglichst entlaßen sein und zur geschäftigen Nichtsthuerei dieser Welt zurückkehren. Manche aber, mögen sie auch mit den andern den Wunsch theilen, fertig zu werden, könnten sich doch durch die Beantwortung der vorigen Frage unbefriedigt fühlen. Die Aufzählung der Gaben ist geschehen, durch die Zusammenordnung aller in vier Classen merken sich die einzelnen beßer; bei dem ersten Paare ist die Bemerkung gemacht, daß sie der Kirche niemals fehlen noch fehlen dürfen. Dagegen aber sind nun die drei andern Classen aufgezählt – ohne Bemerkung, daß sie in der Gegenwart nicht vorkommen, ohne Erörterung warum, ohne Trauerbezeigung über den Mangel, ohne Hoffnung auf Erstattung, und das in einer Zeit, wo doch gerade diese Fragen vielfach die Geister bewegen und eine oftmalige Erwägung und Beantwortung sich von selbst rechtfertigt, ja erheischt ist. Das aber ist, könntet ihr sagen, ein offenbarer Mangel der Antwort auf die fünfte Frage. Allein, meine Brüder, mit der Beantwortung meiner sechsten Frage erledigt sich die Sache. Was ihr wünschet und wollet, werdet ihr finden, wenn ich meine Antwort kurz und textgemäß gegeben habe.

 Worin beruht der Unterschied der Begabung in der Kirche Gottes? Es ist ja ein Unterschied. Der letzte Vers der Epistel sagt ja ausdrücklich: „Das alles aber wirkt der eine und derselbe Geist, der einem jeglichen besonders (oder das Seine) zutheilt. Wenn er einem jeden besonders zutheilt, so hat also ein jeder seine eigene, seine besondere Gabe, – und es gibt also in der Kirche bei Verschiedenen verschiedene Gaben. Ist nun aber ein jeder an seinem Mangel schuldig? oder kann man ihm, was er hat, zum Verdienste anrechnen? Antwort: wenn auch manchmal ein Mangel verschuldet sein kann und sein wird, sintemal ja der HErr des Menschen und Christen Misverhalten durch Entziehung von Gaben strafen kann; so ist doch keinem von seiner Begabung ein Verdienst zuzuschreiben, denn es heißt ausdrücklich (und das ist eben das Wort, das ich betone): „Er theilt einem jeden besonders zu, je nachdem ER will.“ Wer theilt aus? Eine ewige, hochverständige Person: der Eine und derselbe Geist. Wie theilt ER aus: „je nachdem ER will.“ Denk dir die Gemeinde von Corinth, an welche St. Paulus schreibt; denk dir die Fülle ihrer Gaben, von welcher St. Paulus selbst mit Anerkennung redet; denk dir die Verschiedenheit in der Begabung der Einzelnen: Woher kam sie? Aus dem Willen des heiligen Geistes. ER ist der HErr, ER thut, was Ihm wohlgefällt. ER hat Seine heimliche Weisheit, Seine heiligen, wenn auch verborgenen Absichten. ER läßt sich nicht drein reden; Er thut, was ER nach dem Abgrund Seiner göttlichen Barmherzigkeit und Weisheit will.

 Wohlan! Da hast du auch die Antwort auf deine Fragen. Hat der HErr gesagt, ER wolle die drei letzten Classen der Charismen bloß in den apostolischen Zeiten der Gemeinde schenken, die doch allezeit einerlei Beruf auf Erden hat, nicht bloß durchs Wort, sondern auch durch Wunder, Weißagung und allerlei Außerordentliches, die Ungläubigen auf die ordentliche Bahn der Buße und des Glaubens zu

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 072. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/448&oldid=- (Version vom 1.8.2018)