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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Schätze ist in den Worten dargelegt: „Ihr habt es auch angenommen, ihr stehet darin“ oder: „ihr haltet es fest“. Das Annehmen ist der Anfang der Aneignung, der Fortgang ist das Stehen im Evangelium oder das Festhalten des Evangeliums. Das Annehmen ist nichts anderes, als das Glauben, wie sich aus den Worten des 2. Verses mit Sicherheit entnehmen läßt, wo man für: „ihr müßtet es denn umsonst geglaubt haben“ gewis auch sagen kann: „ihr müßtet es umsonst angenommen haben“. Was nun das Annehmen oder Glauben betrifft, so möchte ich euch, meine lieben Brüder, aufmerksam machen, daß es ein doppeltes Annehmen und Glauben gibt, ein menschliches und ein göttliches. Es kann ein Mensch das Evangelium hören; dasselbe kann ihm im Zusammenhange aller seiner Lehren und in seiner Kraft, allen Bedürfnissen und Nöthen des Menschen abzuhelfen, so schön und wohl dargelegt werden, daß es ihm höchst interessant und aller Annahme werth erscheint, daß er davon ergriffen, davon erfüllt und begeistert wird. Dabei aber ist es möglich, daß es sich an ihm selbst als gar keine Kraft Gottes erweist, daß es bei dem bloßen Beifall bleibt, daß es keine Aenderung und Erneuerung des Sinnes und Lebens bewirkt. Ich halte dafür, daß eine solche bloß verständige und gefühlige Zueignung zwar auch oft ein übernatürliches Werk der Gnade und der Anfang zu mehr sein kann, daß es aber bei uns oft auch weiter nichts ist, als ein menschliches Annehmen oder Glauben. Nachdem 1800 Jahre lang das Evangelium von den Weisesten unserer Vorfahren angenommen und unter dem Volke gewissermaßen heimisch geworden ist, übt es auf viele unter den Nachkommen eine gewinnende Kraft und Macht aus, wie andere Ueberlieferungen der theuern Väter, und es ist deshalb noch kein Beweis, daß einer das Evangelium göttlich annahm, wenn er es überhaupt annahm und es rühmt und preist. Göttliche Annahme ist die innere Versiegelung der Wahrheit durch den Geist Gottes, durch welche jene reine, felsenfeste Zuversicht entsteht, vermöge welcher man, bei immer reicherer Demüthigung und gründlicherer Läuterung, von einer Bewährung zu der andern geht und endlich Welt, Tod und Teufel besiegt. Indem ich dies sage, fühle ich wohl, daß diese göttliche, vom Geiste gewirkte Annahme ein Geheimnis ist und daß nur der HErr die Seinen kennt. Ich bewundere die Märtyrer der ersten Jahrhunderte, schaue ihr Ende mit Staunen an und möchte ihrem Glauben um so mehr nachfolgen, als mir das achte Gebot verbietet, ihre Triebfedern bei ihrem Leiden und ihre Absichten bei ihrer Standhaftigkeit zu richten. Ich weiß, daß auch unter den Heiden manche ihre Ansichten bis in den Tod verfochten, daß unter Juden und Heiden ganze Städte in den Tod giengen – nur, um nicht von ihren Feinden und Bedrängern innerlich überwunden zu scheinen. Ja, ich muß mit Schaudern die Möglichkeit zugestehen, daß mancher Märtyrer sein Leben nicht als ein reines Opfer Gotte brachte, sondern, während sein Blut und Leben verrauchte, um seiner innern Unlauterkeit willen zur Linken dem Lamme Gottes treten mußte und einst zur Verwunderung aller zur Linken des Richters wird dargestellt werden. Je seltener mir darnach die göttliche Annahme und die Versiegelung der Wahrheit durch den heiligen Geist erscheint, desto werthvoller und herrlicher erscheint sie mir auch, desto sehnsüchtiger schaue ich nach ihr aus, desto tiefer erschrecke und erbebe ich innerlich vor dem Gedanken, daß es mir oder dir am Ende an der göttlichen Annahme fehlen könnte. Da helfe uns Gott!

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 Wie ernst ist das Leben! Wie entscheidungsvoll unser Lebensgang! Wie viele Täuschungen gibt es! Man kann das Evangelium angenommen haben, aber nicht göttlich, – und, man kann es angenommen haben, und nicht behalten. Man wird selig durchs Evangelium, wie unser Text sagt, wenn man es so, wie der Apostel es predigte, annimmt und wenn man es behält, festhält bis ans Ende. Das Evangelium, wenn man es behält, reicht eine Krone; aber wenn man es nicht behält? Dann behält man auch die Krone nicht. „Behalte, was du hast, mahnt Einer, auf daß dir niemand deine Krone nehme.“ Wenn man nun das Evangelium nicht behält, sei es, daß man es nicht in der Gestalt und in dem Inhalt behält, wie es von den Aposteln überliefert ist, oder daß man von dem Evangelium weicht, ohne es mit einem anderen, vermeintlich beßeren zu vertauschen, was ist dann? Dann hat man, wie sich der Apostel ausdrückt, „umsonst geglaubt“, vergeblich geglaubt, der anfängliche Glaube ist zerronnen, der Anlauf hat nicht zum Ziele geholfen, und man wird dann auch

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 077. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/453&oldid=- (Version vom 1.8.2018)