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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

nicht selig. Daher ist auch mit einer einmaligen Annahme des Evangeliums, mit einer einmaligen Aneignung der Wahrheit und des ewigen Heiles noch nichts Gewisses geschehen. Die Annahme muß immer erneuert werden, durch immer erneuerte, immer tiefere Aufnahme muß die Wahrscheinlichkeit des Beharrens bis ans Ende größer werden und endlich muß, wenn die Seligkeit mit Furcht und Zittern geschafft ist bis hinein in die letzte Stunde, auch in dieser Stunde selbst, unter den Schrecken des Todes, der heilige Geist die Zuversicht erneuen und befestigen, damit nicht umsonst geglaubt sei und aus Glauben ein Schauen werden könne.

 Annehmen – menschlich, göttlich, im Annehmen beharren; unter dem Anlauf der Anfechtung und Versuchungen im Glauben stehen – stehen bis ans Ende, das ist es, worauf es ankommt. Du machst das Heil nicht, – du thust die Heilsthaten nicht, – du kannst keinen göttlichen Glauben in dir wirken: es geschieht alles von Gott, durch Gott, zu Gott, – und Gott ist so gnädig, reicht die Glaubensgüter allen, schafft gern in allen den Glauben, den täglichen, erneuerten Glauben und das Beharren. Es ist so gut, daß alles, alles von Ihm, dem treuen Gotte, gewirkt, gegeben und zugeeignet wird. Warum ist dann doch das Glauben und Beharren ein schweres, ernstes, oft ängstliches Ding? Nicht um des Mangels willen der göttlichen Gnade, sondern um unserer Sünde, Bosheit und Untreue willen. Das merke – und fürchte vor allem dich selbst, und flüchte dich vor dir selbst, in Gottes, deines Retters, treue Hände. ER gebe apostolisches Evangelium, Annahme im heiligen Geiste und Treue in Ihm!


 Da haben wir nun also die Heilsthaten Gottes und den Weg ihrer Aneignung gesehen. In welchem Verhältnisse aber stehen unsre Werke zu unserm Heile? Das ist die nun hervortretende dritte Frage. Die Frage tritt hervor, und das nicht bloß deshalb, weil wir sie oben als dritte hinstellten und uns dazu der Gedankengang unsers Textes veranlaßte, sondern weil der Mensch immer und immer wieder die Werke in Beziehung zu seinem Heile setzt, immer und immer wieder versucht ist, ihnen eine Stelle auf dem Wege zum Heile einzuräumen, die ihnen nicht gebührt. Der Pharisäer im Evangelium ist leicht verurtheilt und verworfen, weil des HErrn untadelicher Vorgang einem jeden das einzig wahre Urtheil vorschreibt. Aber sieh dich selbst etwas genauer an, ob du nicht doch irgendwie selbst auf dem Weg des Pharisäers bist. Vielleicht etwas feiner, ein wenig anders der Form und Rede nach, aber dennoch ganz auffallend ähnlich können deine Gedanken von dir selbst und deine Vergleichung zwischen dir und andern Leuten ausfallen. Es braucht vielleicht nur etwas Licht von oben und du machst die erschreckliche Bemerkung, daß du dicht hinter dem Pharisäer im Evangelium stehst und gehst. Da kommt es also nicht bloß für einige, sondern für viele, ja für alle darauf an, zu erkennen, in welchem Verhältnisse unsre Werke zu unserm Heile stehen. Laßet uns also noch einmal unsre Aufmerksamkeit zusammenfaßen und die Frage beantworten.

 Wollen wir nun von Werken reden, so müßen wir einen Unterschied zwischen den Werken machen, welche ein Mensch vor seinem Eintritt in den Stand der Gnade und nach dem Eintritt in denselben thut. Ehe er in den Stand der Gnade eintritt, kann er im eigentlichen Sinne keine guten Werke thun, weil er den Geist nicht hat, der in uns und durch uns Gutes wirkt. Dennoch aber ist auch unter den Werken des natürlichen Menschen ein Unterschied. Der eine Weltmensch sinkt herunter in ein pur fleischliches Leben, ja zur Barbarei der wildgewordenen Völker, der andere aber hegt und pflegt in sich einen Sinn für das Schöne, Geziemende und Edle und stellt sich vor den Augen der Mitwelt in jener Ehrbarkeit dar, welche schöner ist als Morgen- und Abendstern. Diesen Unterschied kann und wird kein Verständiger leugnen. Ist aber ein Unterschied da, so wird er vor Gott nicht weniger offenbar sein, als vor Menschen, und das Auge, das wahrhaftig ist, wie keines, wird das verschiedene Verhalten des Menschen verschieden würdigen. – Sehen wir auf den Stand der Gnade, so wird ein Mensch in diesem, getrieben vom Geiste Gottes, Gutes thun können. Bleibt auch keine That selbst des heiligsten Menschen von dem Hauche des Bösen ganz verschont, ist keine vollkommen; so gibt es doch, und das ist ja der Triumph der Gnade in diesem irdischen Leben, – es gibt gute Werke, deren Kern nicht faul, sondern gut ist, herausgewachsen nach Gottes Wort und Gebot aus lauterer Absicht. Es

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 078. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/454&oldid=- (Version vom 1.8.2018)