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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

dieser Betrachtung, dem zweiten Teile dieses Vortrags, heim.

 Wenn der heilige Geist uns züchtigt oder zieht, so geschieht es immer durch die übernatürlichen Kräfte, die dem göttlichen Wort einwohnen. Das göttliche Wort naht unserm Geiste in Gedanken, welche an Form andern menschlichen Gedanken völlig ähnlich sind. Aber diese der Form nach menschlichen Gedanken kommen mit einem Segen und einer Kraft von oben, welche gewöhnlichen menschlichen Gedanken nicht beiwohnt, sondern das alleinige Vorrecht derjenigen Gedanken ist, welche der heilige Geist lehrt. Durch diese gütigen Kräfte der zukünftigen Welt gewinnt das Wort des HErrn seine göttlich-menschliche Eigenschaft und die doppelte Wirkung eines lichten, menschlichen Gedankens und einer wunderbaren Offenbarung aus der Höhe. Diese doppelte Eigenschaft und Kraft hat alles Gottes Wort, ob es lehre, ob es strafe, ob es beßere und ermuntere, oder ob es züchtige und erziehe. Also auch die im Worte erziehende Gnade kommt in dieser doppelten Weise zum Menschen und sucht in ihn einzudringen durch die doppelte Gewalt unüberwindlicher Gründe und mächtiger göttlicher Einflüße, so daß es in der That nicht zu verwundern ist, wenn ein Mensch zu einem Gliede göttlichen Eigentumsvolkes erzogen, sondern nur, wenn er nicht erzogen wird, wenn er widerstrebt, wenn er sich der göttlichen Macht erwehrt. Dies aber ist eben das Wunderliche und zugleich schauderhaft Wahre, daß der Mensch zwar sonst nichts kann, aber doch dem Allmächtigen widerstreben, und daß der Allmächtige alles kann, aber sich auch selbst eine Schranke gesetzt und beschloßen hat, den Menschen zu Seinem ewigen Heile zwar zu mahnen, durch die unwiderstehlichen Gründe zu bewegen, und ihm mit himmlischen Kräften zu nahen, aber ihn nicht zu zwingen. Die Welt geht ihre Bahn kraft göttlicher Notwendigkeit, aber der Funke, der winzig kleine Wille eines Menschen, geht seine eigne Bahn, und kann sie selbst dann gehen, wenn ihn die erziehende Hand des HErrn im Himmel auf andre Bahnen lenken will. Da sei gewarnt vor sich selber ein jeder menschlicher Wille, und wer irgend bereits ein Kind des Geistes ist, der bleibe in des Geistes Pfaden und neige sich vor Ihm, so oft er Seine Stimme vernimmt, daß ja nicht das sanfte Sausen vorübergehe, die Seele ungesegnet und sich selbst überlaßen bleibe. Ein Wort ernster Mahnung, ehe ich euch nun das dreifache Werk der erziehenden Gnade Gottes textgemäß weiter beschreibe.

 Dies Werk der erziehenden Gnade ist ein dreifaches, in Anbetracht der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Für die Vergangenheit wirkt die erziehende Gnade eine Verleugnung, in der Gegenwart ein neues heiliges Leben, in Anbetracht der Zukunft eine starke rege Hoffnung. Sie entwöhnt, sie gewöhnt, und bereitet für den Tag der Ewigkeit.

 Verleugnung ist ihr erstes Werk. Sie züchtigt uns, daß wir „verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste,“ sagt der Apostel. Ein wunderliches Wort, dies Wort verleugnen, nahezu gleichbedeutend mit jenem euch wolbekannten Worte des Taufbundes, mit dem Worte entsagen. Was ich verleugne, das ist entweder mein, oder es wird mir doch zugeschrieben, ich aber will es nicht für mein erkennen. Wem ich entsage, dem könnte ich mich auch ergeben, aber ich ergebe mich nicht, ich kündige Gehorsam und Verbindung auf. Petrus verleugnet JEsum, der doch sein HErr und Meister ist, – und wir entsagen dem Teufel, seinen Werken und Wesen, weil wir seinem Reich entnommen und versetzt werden wollen ins Reich des lieben Sohnes. Ebenso soll auch eine Verleugnung in Kraft der erziehenden Gnade Gottes erfolgen. Was wir vor und außer Christo haben, was uns besitzt und hat, regiert und beherrscht, dem soll von Herzensgrund der Abschied gegeben werden, die Seele soll sich davon frei und los machen.

 Was ist aber das? Gottlosigkeit oder das ungöttliche Wesen, wie Luther übersetzt und weltliche Lüste. Unter ungöttlichem Wesen oder Gottlosigkeit ist nichts anderes verstanden, als der Abfall von Gott, die Abgötterei und Zauberei, also eben das, was im Taufbund mit dem Ausdruck „Werke des Teufels“ bezeichnet ist. Ebenso liegt in dem Ausdruck „weltliche Lüste“ nicht etwa eine Einteilung der Lüste verborgen, so daß jemand weltliche Lüste und auch andre haben könnte. Jene Lust, von der geschrieben steht: „des Herzens Lust stehet zu deinem Namen,“ ist kaum dem allgemeinen Begriff nach mit den Lüsten zusammen zu reimen, von denen hier die Rede ist. Die Mehrzahl des Wortes Lust, die

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 039. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/46&oldid=- (Version vom 1.8.2018)