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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sätze darlegt. Man dürfte ja nur sagen: da das Gesetz unzweifelig von Gott gegeben ist, so kann es in keiner Absicht gegeben sein, welche anderen Veranstaltungen oder Absichten Gottes widerspräche. Gott bleibt Sich Selbst treu, Er widerspricht Sich nicht. Von einer Antwort dieses Inhalts ist auch St. Paulus bei allem, was er in dieser Epistel sagt, so durchdrungen, daß man sie überall durchschimmern sieht durch das Gewebe seiner Gedanken, durch alle seine Reden durchhört. Haltet sie einmal fest, meine Lieben, und überzeugt euch dann aus der Vorlage der paulinischen Sätze, daß es nicht anders ist, als ich sage.

 Die erste Antwort Pauli ist: „das Gesetz kann nicht vierhundertunddreißig Jahre nachher dem mit Abraham geschloßenen Bunde und dem ihm übergebenen Testamente Gottes widersprechen. Nach diesem Testamente ist Abraham und allen Gläubigen nach ihm das ewige Erbe, Leben und Seligkeit, in dem verheißenen Samen, d. i. in Christo JEsu, frei geschenkt, unabhängig von dem Verhalten des Menschen, ja gerade deshalb, weil das Heil des Menschen von ihm selbst durchaus nicht gewirkt werden kann. Die Gnade kommt in Christo JEsu dem hilflosen Menschen entgegen; wie kann also Gott vierhundertunddreißig Jahre nachher, da Er das Gesetz gibt, die Absicht gehabt haben, durch’s Gesetz einen Weg des Heiles zu eröffnen? Er kann vierhundertunddreißig Jahre nachher den Menschen nicht anders ansehen als vierhundertunddreißig Jahre vorher: der Mensch ist nach dieser Frist derselbe wie vorher, so muß er also auch da noch die Seligkeit als freies Gnadengeschenk empfangen, oder er findet sie gar nicht. Gott muß Sich in Seinem Gnadenwege treu verbleiben oder es ist aus mit unserm Heile.“ Das ist’s, was St. Paulus in den Worten ausdrückt: „Lieben Brüder, ich muß menschlich davon reden: verachtet doch auch niemand eines Menschen Testament, wenn es einmal fest geworden ist, oder setzt etwas dazu. Nun sind ja die Verheißungen Abraham geredet, versprochen – und seinem Samen. Nicht spricht er: „Und den Samen“, als ob von vielen die Rede wäre, sondern als ob von einem: „Und deinem Samen“, welcher Christus ist. Das aber meine ich: das Testament, das von Gott zuvor bestätigt ist auf Christum, wird nicht aufgehoben, daß die Verheißung sollte durchs Gesetz aufhören, welches gegeben ist über vierhundertunddreißig Jahre hernach.“

 Wäre das Gesetz gegeben, um die Verheißung aufzuheben, daß also der Mensch nicht mehr lauterlich aus Gnaden die ewige Hilfe fände, und ihm die Seligkeit nicht mehr frei geschenkt würde, so würde es auch ein Gegner der Verheißung sein, und man würde die Antwort auf die Frage des heiligen Paulus, ob das Gesetz, gegen die Verheißung sei, nur bejahen können, während doch offenbar der Apostel selbst ein „ja“ auf die Frage gar nicht für möglich hält. Das Gesetz ist also nicht bloß nicht gegeben, um die Verheißung aufzuheben, sondern es widerstreitet ihr auch nicht, beide können im Frieden neben einander bestehen und müßen alsdann auch, weil sie von einem Ursprung stammen, dem gleichen Zwecke dienen. Man könnte das ziemlich für eins nehmen: Das Gesetz hebt die Verheißung nicht auf, und: es widerstreitet ihr nicht. Dennoch aber ist es nicht einerlei, weil nicht nothwendig ein Ding durch das andere aufgehoben wird, wenn sie einander widerstreiten und weil ein Widerstreit möglicherweise sogar einen heilsamen Zweck haben könnte. Aber nicht einmal ein solcher Widerstreit ist vorhanden; zwischen Gesetz und Verheißung ist voller Friede, und der Gott, aus Deßen Händen beide stammen, Deßen Gaben beide sind, kann nicht die Absicht gehabt haben, mit der einen im Gebrauch und in der Wirkung der andern sich selbst zu hindern.

 Mit alledem sind wir aber doch noch nicht am Ende mit der Auslegung deßen, was nach der heiligen Schrift das Gesetz nicht ist und wozu es nicht gegeben wurde. Der heilige Apostel sagt uns noch mehr, was wir uns auch nicht vorenthalten dürfen, da es unsere heilige Pflicht ist, der Apostel Rede aufmerksam und treu zu hören und ihr heiliges Wort uns dankbar anzueignen. Ausdrücklich sagt nemlich der heilige Apostel, daß das Gesetz nicht könne lebendig, nicht gerecht, nicht selig machen. Es liegt das in seinen Worten Vers 21 und 18, da er spricht: „Wenn ein Gesetz gegeben wäre, das da könnte lebendig machen, so käme die Gerechtigkeit in der That aus dem Gesetze,“ und: „Wenn aus dem Gesetze das Erbe käme, so käme es nicht aus Verheißung.“ Jedermann kann sich daraus abnehmen, daß weder Leben, noch

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 089. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/465&oldid=- (Version vom 1.8.2018)