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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gerechtigkeit, noch das Erbe, d. i. die Seligkeit aus dem Gesetze kommt, und der ganze Beweisesgang des heiligen Apostels bürgt uns dafür, daß diese Armuth des Gesetzes nicht bloß zufällig ist, und aus der Beschaffenheit der einzelnen Menschen erklärt werden muß, sondern daß der HErr Selbst bei der Gesetzgebung gar nicht die Absicht gehabt hat, im Gesetz und durch es Leben, Gerechtigkeit und Seligkeit zu geben. Unter dem Leben, von welchem hier die Rede ist, ist kein anderes gemeint, als das innere neue Leben des Geistes, durch welches der Mensch tüchtig wird, gerecht und heilig zu werden, und welches an und für sich selber nichts anderes ist, als das Leben aus Gott, die Seligkeit selbst; denn es würde dies Leben hier schon Seligkeit sein, wenn wir nicht auf Erden mit so vielen inneren und äußeren Hindernissen umgeben wären, die unser geistliches Wohlsein hemmen. Daß der Apostel vollkommen Recht hat, wenn er dem Gesetze die belebende, gerecht und selig machende Kraft abspricht, ist übrigens nicht bloß aus seinem Zusammenhang mit Christo, aus seiner Inspiration und seiner hohen Würde zu schließen, sondern es kann auch jedermann aus eigner Erfahrung zu der Gewisheit kommen. Wer hätte wohl dadurch jemals sein Leben und die Kraft zum Guten in sich wachsen sehen, daß ihm das Gesetz vom Sinai eingeprägt wurde. Je stärker der gesetzliche Ton der Posaune vom Sinai erklingt, desto mehr fühlt der Mensch seine Armuth, seine Kraftlosigkeit und seinen Tod. Je zwingender die Forderung des Gesetzes an ihn ergeht, desto mehr wird er sein sündliches Wesen inne, wie es auch geschrieben steht: aus dem Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde. Ebenso: je gewaltiger von uns das Wohlsein und die Seligkeit in Vollbringung guter Werke gesucht wird, desto unverkennbarer tritt das Misbehagen am Guten und die Unlust zum Guten ans Licht. Es kann daher auch nichts gewisser sein, als die Lehre des heiligen Paulus von der Armuth des Gesetzes, uns arme verlorne Menschen in den Zustand eines neuen, reinen, gerechten Lebens zu versetzen. Dabei wäre es sicherlich nur der größte Irrtum, wenn man zwar dem mosaischen Gesetze die lebendigmachende Kraft absprechen wollte, aber nicht den Forderungen der gegenwärtig in der Welt beliebten Moral. Was hat denn die Moral beßeres, als das Gesetz vom Sinai? Was ist sie denn weiter, als ein schwacher Nachhall der Rede Gottes vom Horeb? Und woher soll sie denn die verbindende Kraft und Macht haben, wenn nicht von Demjenigen, der von Seinem Volke nichts anderes verlangt hat, als wozu Er die ganze Welt verbindlich machen wollte? Es ist mit der Moralpredigt der neuen Zeit in der That der Welt noch weniger geholfen, als mit der mächtigen Predigt vom Sinai. Hat jener Donner, haben jene Flammen nichts weiter vermocht, als daß die Unfruchtbarkeit unserer Natur in grelles Licht gesetzt wurde, so wird der schwache Nachhall und der Mondschein unserer zeitgemäßen Moral noch weniger vermögen. Wir sind und bleiben ein armes Geschlecht und vermögen in keiner Weise der göttlichen Forderung zu entsprechen. Wäre es daher die göttliche Absicht gewesen, durch die Gesetzgebung uns neues Leben, Gerechtigkeit und ewiges Wohlsein zu verschaffen, so wäre diese Absicht wenigstens an uns mislungen und der Weg des Gesetzes für uns kein glücklicher. Es ist aber aus der heiligen Schrift offenbar, und St. Paulus lehrt uns unwiderleglich, daß der HErr diese Absicht bei der Gesetzgebung gar nicht gehabt hat, und sie eben so wenig bei den uns einwohnenden Forderungen des Guten haben kann. Daher wir uns billig von dem Apostel über seine wahre Absicht belehren laßen.

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 Die wahre Absicht des Gesetzes vom Sinai wird von dem heiligen Paulus in unserem Texte und deßen neunzehntem Verse als eine vorübergehende bezeichnet; denn es heißt ja, „das Gesetz ist hinzugesetzt zu der Verheißung, bis daß der Same käme, dem die Verheißung geschehen ist.“ Nun wird zwar alsbald jedermann erkennen, daß man dem Inhalte des Gesetzes, welches vom Sinai erklang, keine vorübergehende Geltung oder Bedeutung zuschreiben könne. Wir wißen alle, daß unser HErr Selbst sagt, Himmel und Erde würden vergehen, von dem Gesetzbuch selber aber auch nicht einmal ein Tüttel; auch ist es uns nicht unbekannt, daß unser HErr klein heißt im Reiche Gottes diejenigen, die auch nur das kleinste Gebot des Gesetzes aufheben würden, und daß Er Selbst behauptet, zur Aufhebung des Gesetzes nicht gekommen zu sein. Dem entgegen redet der Apostel Paulus nicht. Der Inhalt des Gesetzes ist und bleibt immerzu Gottes heiliger Wille an uns, und wir selbst sind immer und ewig an ihn gebunden. Es ist in unserem Texte

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 090. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/466&oldid=- (Version vom 1.8.2018)