Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/467

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

von nichts die Rede, als von demjenigen, was der HErr mit der Bekanntmachung Seines heiligen Willens, den alle Heiligen voraus schon kannten, an jenem großen Tage in der Wüste Sinai gewollt hat. Er hatte dabei eine vorübergehende Absicht, wie uns der heilige Paulus lehrt, so wie Er bei dem Gesetze auch bleibende Absichten gehabt hat. Leben geben, Gerechtigkeit verleihen, selig machen ist aus Seiner Absicht mit dem Gesetze überhaupt ausgeschloßen. Dagegen ist und bleibt es Seine Absicht, daß wir im Gesetze Seinen heiligen Willen erkennen, und Seine vorübergehende Absicht bei der Gesetzgebung an Israel ist die der Apostel in unserem Texte genauer bezeichnet, welche an Israel erreicht werden sollte, und an jedem Menschen, der in den Zustand der Gesetzlichkeit eintritt, oder in denselbigen Zustand zeitweilig zurücktritt. Der Apostel bezeichnet diese vorübergehende Absicht mit den Worten: das Gesetz ist hinzugesetzt worden zu der Verheißung um der Uebertretungen willen. Deutlich bezeichnen diese Worte allerdings die göttliche Absicht noch nicht. Es wäre ja das Gesetz um der Uebertretungen willen auch dann gegeben, wenn es die einzige Absicht gehabt hätte, denselben zu wehren, und doch würde eine solche Deutung im Sinne Pauli nicht gegeben werden können: daher müßen wir für die allgemeinen Worte Pauli eine genauere Begränzung suchen. Diese finden wir in den Briefen Pauli überhaupt leicht, können sie aber auch aus unserm besonderen Texte entnehmen. Der Apostel sagt nemlich im letzten Verse des Textes: „Die Schrift hat alles beschloßen unter die Sünde, auf daß die Verheißung denjenigen gegeben würde, die da glauben an JEsum Christum.“ Was soll damit anders ausgedrückt werden, als die Absicht Gottes, durch die Gesetzgebung auf Sinai auf eine recht unzweideutige Weise die Sünde zu verdammen und um der Sünde willen alle Sünder, ja alles, was mit der Sünde in Berührung kommt. Denn es heißt ja: die Schrift hat alles beschloßen unter die Sünde, alles aber heißt nicht bloß alle Menschen, sondern überhaupt alles, worauf sich das Gesetz nur beziehen kann, was in seinen Bereich gelangt. Wie der Blitz vom Sinai die Luft erleuchtete, so erleuchtet das Wort vom Sinai unsere Herzen rücksichtlich unserer Sünde, und wie der Donner vom Sinai über die Wüste hin erschallt, so erschallt über alle diejenigen, die das Gesetz übertreten, und über alles, was in die Uebertretung hineingezogen wird, der Fluch des HErrn wie ein Donner. Wenn es also oben heißt, das Gesetz sei um der Uebertretungen willen gegeben, so legt sich das aus den weiteren Worten des Apostels so aus, daß die Uebertretungen in ihrer Verdammlichkeit recht offenbar hingestellt und gezeigt werden sollten. Man würde jedoch auch diese Absicht Gottes falsch ausdeuten, wenn man sie als die Endabsicht des HErrn bei Seiner Gesetzgebung auf Sinai bezeichnen wollte. Der heilige Apostel sagt ja: die Schrift, so weit sie das Gesetz enthält, habe alles unter die Sünde beschloßen, damit die dem Glauben beigelegte Verheißung denen gegeben würde, die da glauben. Also das Beschließen unter die Sünde ist kein Abschließen der Gnade, sondern im Gegentheil, alles wird unter die Sünde beschloßen, damit niemand seine Hilfe bei dem Gesetze suchen könne, sondern vielmehr jeder getrieben werde, sein Heil einzig bei der Verheißung, d. i. einzig bei der freien Gnade Gottes zu suchen. Denn die Verheißung verheißt ja nicht verdienten Lohn, sondern sie verheißt das freie Geschenk des Allerhöchsten an diejenigen, die arm und bloß im Gefühle ihres ungesetzmäßigen Lebens und in der Ueberzeugung Gottes Gebote niemals nach Schuldigkeit halten zu können, ihre Zuflucht zu dem Samen nehmen, auf den die Verheißung lautet, d. i. zu dem Christus, durch Deßen blutende Wunden uns alles Heil und alle Gnade Gottes vermittelt ist. Faßen wir dies recht, so finden wir auch, daß das Gesetz eine vorbereitende Absicht auf Christum und Sein Evangelium hat, und daß in seiner Uebung dem Menschen Sinn und Meinung vergehen soll, als könnte er jemals selbst dem Gesetze genügen. Die Uebung des Gesetzes soll von allen falschen Gedanken über den Zweck des Gesetzes heilen und den armen Sünder dahin drängen und treiben, daß er sich nach tiefer Erfahrung seines Unwerthes lauterlich in JEsu treue Hände ergebe. Das ist die Belehrung St. Pauli über den Zweck des Gesetzes. Durchs Gesetz soll es dahin kommen, daß dem Menschen nichts übrig bleibt, als die gnädige Verheißung Gottes, die er im Glauben faßen kann.


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 091. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/467&oldid=- (Version vom 1.8.2018)