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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wüßtest, du Rath und Kraft dazu nicht hättest? Es ist nichts leichter, als alles, wofür man nicht zu rathen weiß, in’s Gebet zu weisen, ohne daß man doch sicher angeben kann, wie und in welchem Maße man beten soll. Wie, wenn der apostolische Rath der beste wäre? Wie, wenn er nur so gebieterisch aussähe, ohne es zu sein? Wie, wenn er gar nichts Gesetzliches in sich hätte, sondern im Gegentheil Kraft und Hilfe in sich schlöße! Denket nur einmal daran, daß es sich ja gar nicht drum handelt, den heiligen Geist herbeizubringen, in welchem man wandeln soll, und die Kraft, sich ihm hinzugeben, erst zu verleihen. Der Galater, an welchen der Brief von Paulo geschrieben ist, der Christ, hat ja den Geist. Hat er aber den Geist, so hat er ja damit auch den Trieb, die Kraft zum Guten. Es wird ja nicht verlangt, daß einer aus eigener Kraft das Gute thun solle, sondern nur daß er den Geist solle walten laßen, ihm nicht widerstreben. Dazu hat ja ein Christ einen erneuten Willen, eine Gabe und Kraft, welche er anwenden kann, die er „erwecken“ und erwecken laßen kann, um das Eine zu thun, was nöthig und förderlich ist, nemlich den Widerstand einzustellen und sich lauterlich dem Geiste zu überliefern. Auch ist es ja gewis, daß zwar der Mensch ohne Geist umsonst zum Guten aufgefordert wird, keinerlei Erfolg hat, dagegen aber der Christ, der Mensch, dem Gottes Geist und Gabe geworden, durch ernste Mahnung aufgerufen wird, zu thun, was er vermöge der göttlichen Gabe thun kann. Für den Christen haben apostolische Ermahnungen nicht bloß die Kraft von Erinnerungen an heilige Pflichten, sondern auch die Kraft belebender Winde, erwärmenden Feuers. Sie wecken ihn auf, sie treiben ihn an, sie helfen ihm fort, es ist ein Segen in ihnen, und ich denke, es werden euch allen bestätigende Erfahrungen zu Gebote stehen, so wie die Worte Pauli es ausdrücklich sagen. Also wohlan, wenn dir die heilige Pflicht schwer werden will, wenn du es für außerordentlich schwer hältst, dich dem Geiste und Seinem Triebe zu überlaßen; so begib dich zur Predigt, so laß dich von deinem Seelsorger und andern Brüdern ermahnen, aufrufen, aufmuntern, den empfangenen neuen Willen und die edle Gabe wecken und die Zusprache, das zündende, das lebendige, frische Wort wird dir leichter machen, was dir in Anbetracht deiner Schwachheit schwer wird.

 Man darf sich auch die Sache nicht losgetrennt von dem Heilbrunnen Christi denken. Derselbe Apostel, welcher gebietend und ermahnend den besten Rath ertheilt, erklärt ihn im letzten Verse der Epistel in den Worten: „Welche Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch mit den Lüsten und Begierden.“ Indem von einer Angehörigkeit Christi geredet wird, wird auch von einer Kreuzigung des Fleisches geredet. Es zeigt sich hier, daß die Kreuzigung des Fleisches eine Nachfolge der Kreuzigung Christi ist, daß diese Nachfolge aus der Angehörigkeit an Christum, also aus Liebe und Andacht zu Ihm hervorwächst, daß die Betrachtung und gläubige Erfaßung Seiner Leiden, die Bewunderung Seiner Hingebung für uns und unsre Erlösung den dauernden Entschluß erwecken kann, Ihm zu Lieb und Ehre Fleisch und Fleischeslust und fleischliche Begier zu opfern. Es wird also nur nöthig sein, daß der Christ sich in der Andacht Christi, in der gläubigen Betrachtung seiner Leiden, seiner erlösenden Liebe und Aufopferung übe; so wird er wie von selbst zu dem Geheimnis kommen, seine Gabe zu wecken und sich zur Hingabe an den Trieb des Geistes zu ermuntern und ermuntern zu laßen. Es liegt in den Worten des Apostels von der Kreuzigung des Fleisches die Anweisung, wie man den Ruf zur Heiligung am kräftigsten unterstützen und am meisten zum Guten reizen kann, sich und andern am besten predigen. Die Darlegung aller Tugend als Nachfolge JEsu, als Dank und Liebesthat für Sein Versöhnen, als Andacht und Glaubensfrucht, – die Predigt von dem Kreuze JEsu als dem mächtigsten Beweggrunde zu allem Guten wird dem armen schwachen Christen am besten und am öftesten zum Siege verhelfen, ihn am besten zur Vollendung führen. Je mehr der Mensch im Andenken und in der gläubigen Betrachtung der Leiden JEsu lebt, desto leichter, desto süßer wird ihm im schweren Kampf sein Sieg, seine Heiligung, seine Tugend. Der evangelischeste Weg ist also der beste, und es wäre nur zu wünschen, daß ihn recht viele beträten und die selige Erfahrung machten.


 Aber hier stehe ich nun eben bei der ernstesten Wendung meines Vortrags. Ich sehe euch vor mir, eine Schaar von getauften Christen, welche sämmtlich,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 097. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/473&oldid=- (Version vom 1.8.2018)