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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

in sich zu dulden. – Das Böse, welches man neben dem Guten duldet, wird endlich des Guten Meister, wie die Kinder der Menschen die Kinder Gottes beeinflußten, bis alle Welt ihren Weg verderbt hatte, und wie ein wenig Sauerteig den ganzen Teig verderbt. Lebt daher jemand im Geiste, ohne daß sich ein Wandel im Geiste daraus ergibt, so wird wohl am Ende auch das Leben im Geiste versiegen; aber eine Weile kann der Widerspruch stattfinden, je nach Umständen bei dem einen länger, bei dem andern kürzer, – der Apostel aber will, daß der sittliche Widerspruch aufhöre, und ermahnt daher mit mächtigem Ernste: „So wir im Geiste leben, so laßt uns auch im Geiste wandeln.“ Ist innerlich in dir ein neues Leben, regt und bewegt und treibt dich der Geist, so verharre dabei nicht in Fleischessünden, sondern laß das Licht, welches in dir ist, deine Seele und deinen Leib regieren. Laß die Flamme ausschlagen, sperre sie nicht ein. Gönne ihr Lebensluft, so wird sie wohlthätig wirken. Thust du es nicht, so wird sie ersticken und du mit ihr, oder sie macht sich gewaltsamer Weise Bahn und zerstört, indem sie die Herrschaft sucht, die ihr gebührt. – Die Ermahnung des Apostels ist keine überflüßige, meine lieben Brüder. Man sieht es nicht bloß aus den Worten Pauli, sondern man erfährt es an sich und andern vielfach, wie der Geist inwendig im heiligen Geiste lebt und treibt, und doch das Fleisch träg und in der Trägheit mächtig den Wandel im Geiste hindert. Was ist die größte Pein der Kinder Gottes, die größte Mühe der Seelsorger, die größte Sorge derer, die sich lieb haben? Eben der Mangel an Fortschritt des inwendigen Lebens zum auswendigen Wandel ist es. Da will dann eben Gottes Wort und seine treue Ermahnung helfen, und wie ein Landmann im Frühjahr steht und seinem Waßer den Weg in alle Theile seiner Wiese bereitet, Hindernisse wegnimmt, neue Gräben und Canäle macht; so sucht der heilige Apostel in unserer Epistel und an wie vielen andern Orten das Leben des Geistes in alle Gebiete unsers Lebens zu leiten. Es muß ja ein Wandel im Geiste aus dem Leben im Geiste werden, und das geschieht, wie wir schon aus der vorigen Epistel wißen, nicht anders, als dadurch, daß Gottes heiliges Wort uns immer neu anhaucht und aus der Brunnenstube des Verdienstes JEsu uns immer neue Kraft zu einem heiligen Leben zugeführt wird – sammt Weisheit und Verstand, die Kraft anzuwenden.

 Gehen wir nun einmal an der Hand unsers Textes weiter und sehen, wie der Wandel im Geiste in Beziehung auf eigene und fremde Gabe und Sünde sich gestaltet.

 Nichts ist gewöhnlicher, als daß der Mensch die eigene Gabe über-, die fremde unterschätzt, daß er die eigene Sünde unter-, die fremde überschätzt. Von beidem ist nicht bloß Mangel an Erkenntnis die Ursache, sondern auch der Unwille, klein zu werden, sein Maß einzuhalten, der Hochmuth. Dieses angeerbte Uebel gleicht insofern den Bienen, als es allenthalben und aus allen Dingen seine Nahrung sucht; ja es übertrifft die Bienen und alle Creaturen, indem es alles und jedes zu seiner Nahrung umzuwandeln versteht. Da muß alles der Selbstsucht dienen, und was widerstrebt, was Mühe macht, was sich dem geliebten eigenen Selbst nicht zu Füßen legen will, das wird gehaßt, entweder doch endlich dem bösen Zwecke unterthänig gemacht oder vernichtet. Prüfe sich jeder, ob nicht der Unhold, von dem ich rede, auch in seiner Seele zu finden ist und alles, alle Wege und Stege, alles Thun und Laßen besudelt. Gegenüber diesem Unhold und alten, häßlichen Adam findet sich in dem Christen aber auch ein neuer Mensch, mit anderem, neuem Lichte, mit neuem, guten Willen, mit neuer, heiliger Kraft. An diesen neuen Menschen wendet sich nun St. Paulus im Texte und erweckt ihn durch seinen kräftigen Zuruf zu einem guten Kampfe und zu herrlichem Siege.

 Bei der Vorlegung der apostolischen Ermahnung wollen wir einen Unterschied machen. Wir wollen zuerst das Wort Pauli, welches den Hochmuth auf eigene Gabe und Vortrefflichkeit tödten soll, betrachten, und dann das zweite, welches zum Gegenteil, zur Ergreifung und Uebung christlicher Sanftmuth und Geduld antreibt, uns vorhalten.

 Bei Bekämpfung unsers Hochmuths geht Paulus den Weg von dem äußern Verhalten einwärts bis zum innerlichsten Geschäfte der Tödtung des alten Adams. Weil alles Böse wie alles Gute seine Wurzel im Innern hat, so wollen manche auch keinen Weg der Heiligung, ja der seelsorgerischen Behandlung eingehalten wißen und gelten laßen, als den

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/477&oldid=- (Version vom 1.8.2018)