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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

nicht an andern und im Vergleich mit andern, sondern er vergleiche sich mit dem, was er selbst, in seinen Verhältnissen sein soll, mit dem göttlichen Bild von ihm selbst, welches ihm seine Berufung zu Christo vorhält, welches er in Gottes Wort und Christi Beispiel findet; dann wird er, wenn je ein Ruhm vorhanden sein sollte, ihn nicht so in sich finden, auch nicht so aussprechen, daß andere herausgefordert, entrüstet und zu Neid und Haß entflammt werden, sondern er wird den Ruhm an ihm selbst haben und im Vergleich mit sich selbst. Das wird dann keinem andern Aergernis geben. Wahrscheinlich aber wird es mit dem Ruhm überhaupt nicht viel werden. Das Selbstgericht wird zur Selbst-, d. i. zur Sündenerkenntnis führen, – es wird ihm gehen, wie es im Texte heißt: „Ein jeder wird seine Last tragen“, er wird seine Last, seine Unvollkommenheit, seinen bösen Hang, sein Verderben finden, – er wird es tragen als Last, und in Buße und Weh beweinen, daß er nicht ist, wie er könnte, geschweige wie er sollte.

 So führt der heilige Apostel die Galater zum Leben im Geist. So weiß er in ihnen den bösen hochmüthigen Trieb zu tödten, und bis zur Quelle des Bösen im Innern seine Seelsorge zu erstrecken. Allein, meine lieben Brüder, es ist ein wunderliches Ding mit unserm innern Leben und unserer Heiligung. Es geht meist neben einer Thätigkeit eine zweite her. So wie unser ganzer Leib zweitheilig ist und unsre Glieder sich zwiefach finden, so wie wir mit zwei Augen sehen, mit zwei Ohren hören, mit zwei Händen arbeiten, mit zwei Füßen gehen: so gibt es für alle unsre innern geistlichen Regungen und Bewegungen entsprechende zweite, eine zweite für jede, ihr beigeordnet, wie dem ebräischen Psalmenvers seine parallele zweite Hälfte. Nehmt zum Beispiel unsern Text. Der Apostel will die Galater heilen von allem Hochmuth. Da lehrt er sie den Hochmuth an sich und in sich bekämpfen, aber zugleich auch das Gegentheil an andern üben. Man könnte sagen: wer selbst von Hochmuth und Sünde nicht frei ist, kann andern nicht dienen, daß sie frei werden: man könnte sich auf das Wort Christi berufen vom Splitter und Balken. Allein es wäre doch damit nur oberflächlich der Schrift entsprochen: schriftmäßig im eigentlichen Sinne ist es für sich und andere sorgen, für sich, indem man auch für andere, für andere, indem man auch für sich sorgt. Richte den Splitter nicht, bevor du die Arbeit an deinem Balken begonnen hast. Aber wenn du deinen Balken zu entfernen alles Ernstes trachtest, wenn dir deine Heiligung Ernst ist, dann darfst du nicht bloß, dann sollst du auch für andere sorgen. Die Heiligung ist bei keinem fertig, so lang er hier ist, – sie ist ein Werden. Wer andern zur Heiligung dienen wollte, wenn er selbst mit seiner Heiligung fertig wäre, müßte es ganz unterlaßen. Daher soll man wohl bedenken, was man thut, – nach eigener und fremder Vollendung gleichzeitig ringen. So soll nun, wer den eigenen Hochmuth tödten will, nach unserm Texte Sanftmuth an andern üben. Hochmuth tödten, das ist unsre Demuth; – Demuth und Sanftmuth sind nun zwar nicht Eins, – aber sie sind ein Paar, – sie gehen Hand in Hand. Wo Demuth, da soll auch Sanftmuth geübt werden. Versäume Sanftmuth, so geräth keine Demuth. Uebe Sanftmuth, so gibst du deiner Demuth Sonnenschein und Wachstum. Da laßt uns nun also sehen, was der Text von der Uebung unsrer Sanftmuth sagt.

 Lieben Brüder, so ein Mensch etwa von einem Fehl übereilet würde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanftmüthigem Geiste, die ihr geistlich seid. Und sieh auf dich selbst, daß du nicht auch versucht werdest.“ Hier Uebung unserer Sanftmuth! Paßt der Spruch auf uns, oder nicht? Nicht wahr, wenn unsre Art und Weise geschildert werden soll, da paßt er nicht; aber wenn er uns zeigen soll, wie wir zwar sein und handeln sollten, aber weder sind noch handeln, da paßt er ganz und gar. Wenn ein Mensch gute Werke wirkt, wie thut ihr? Ihr zieht sie in den Staub; ihr zweifelt die gute Absicht an, ihr erdichtet boshafte Gesinnung und suchet den Kern der Frucht zu tödten, damit ihr desto leichter beweisen könnet, sie sei ganz und gar faul und todt. Und wenn ein Mensch umgekehrt von einem Fehl übereilt wird, wie macht ihrs dann? Dann zieht ihr euch von ihm zurück, schämt euch seiner, glaubt alles Böse, weil er Ein böses Ding gethan hat, nennet ihn einen Heuchler, werdet irre an seiner ganzen Lebensrichtung, an allen Christen, nur nicht an euch. Damit thut ihr das grade Gegentheil von dem, was St. Paulus lehrt; denn er behauptet, man solle einen solchen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/479&oldid=- (Version vom 1.8.2018)