Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/485

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sind. Vorzumal glaubten die Weisesten und Besten im Volke Gottes so etwas nicht. Wenn sie auch glaubten, daß Heiden mit Israel erben, mit dem heiligen Volk Einen Leib bilden und Mitgenoßen an der Verheißung Gottes werden könnten: so hatten sie doch keinen Gedanken von dem Strom der Heiden, welche mit Israel zu Einem Ganzen, zu Einer Kirche zusammengefügt werden sollten, und noch weniger davon, daß diese Vereinigung bloß durchs Evangelium, bloß durch den Glauben, ohne Beschneidung und Werke geschehen sollte. Der Bau Einer Kirche und Eines ewigen Reiches Gottes aus Juden und Heiden war im Alten Testamente ein für Israel selbst verborgenes Geheimnis. Was aber die Heiden anlangte, so dachte unter ihnen wohl niemand an die Vereinigung von Leuten aus allen Nationen mit Israel zu Einer Kirche, und dieser göttliche und große Gedanke von Einer Heerde und Einem Hirten war ihnen eben so verborgen, als sie ihm vielleicht wenig Werth beigelegt haben würden, wenn sie ihn gekannt hätten. Was nun Juden und Heiden verborgen war, das war, wie Vers 10 unsers Textkapitels zeigt, auch „den Fürstentümern und Herrschaften im Himmel“, also den heiligen Engeln verborgen. Gottes wunderbarer Rath war es nach dem Zeugnisse des hohen Apostels, deßen Weisheit und Wißen sogar bis in die oberen Räume und in den Himmel reichte, daß auch von Seinen Geistern und Boten keiner vorauswißen sollte, wie weit sich das Heil in Christo JEsu erstrecken sollte. Was aber den Menschen auf Erden, und zwar so Juden wie Heiden und nicht minder den heiligen Engeln verborgen war, das war natürlich dem Satan und seinen Engeln um so mehr verborgen. Wenn auch die heiligen Propheten im Alten Testamente vom Heile der Heiden geredet hatten, so konnten sie doch nicht die „Länge und Breite, die Höhe und Tiefe“ ihrer Reden, geschweige des Rathschlußes Gottes erkennen. Als aber die Zeit erfüllt war, als Christus alles vorbereitet und vollendet hatte, so dort wie hier, was zur Seligkeit aller Völker nöthig war, da offenbarte Gott „in Seinen heiligen Aposteln und Propheten (neuen Testamentes) durch den Geist“ den göttlichen Liebesgedanken vom Bau Seiner heiligen Kirche, von Zusammenfügung der beiden Mauern des Einen Tempels, von der Sammlung der Auserwählten aller Nationen zu Einer ewigen, seligen, gerechten Heerde Christi. Dieser Liebesgedanke heißt Vers 10 „die mannigfaltige Weisheit Gottes,“ weil der HErr aus so vielen verschiedenen Theilen, aus einer so großen Mannigfaltigkeit Eine heilige Einheit zu schaffen beschloß. Und dieser, zuvor sogar im Himmel verborgene Plan der mannigfaltigen Weisheit und unaussprechlichen Liebe in Christo sollte in der Gemeinde (wie man das auch in der Apostelgeschichte liest) mit überraschender Fülle und Macht hervortreten. An der Gemeinde selbst, an ihrem Werden und Wachsen sollte den Fürstentümern und Herrschaften im Himmel das Geheimnis kund werden. In der Geschichte und täglichen Erfahrung der Kirche sollten nach Vers 18 alle Heiligen, unter ihnen auch die Epheser, faßen und begreifen, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe der Liebe Gottes in Christo JEsu und die alle Erkenntnis weit überragende Liebe Christi und die ganze Fülle des Rathes Gottes in Seiner heiligen Kirche. So wie ein Blinder, der nie die Sonne gesehen, wenn er sie zum ersten Male genesenen Auges hervorbrechen sähe in ihrer Herrlichkeit, ganz anders über die Wunder erstaunen würde, als wir, die wir es von Jugend auf täglich sehen; so gieng es eben damals auch. Im Himmel und auf Erden war alles voll Erstaunen, als Petrus nach Cäsarea zu Cornelius, als die Jünger von Cyrene nach Antiochien geführt wurden, als die ersten Gemeinden aus Heiden und Juden entstanden, ohne Beschneidung, allein durch Wort und Sacrament und Glauben. Das Erstaunen löste sich auf Erden unter den Heiden in Jubel auf und eben so im Himmel, und dort, wo kein Wunder Gottes durch Gewohnheit veraltet, geht auch jetzt noch ununterbrochen Lob und Preisgesang fort über das offenbarte Geheimnis des Baues der Kirche Gottes, wenn schon auf Erden Preis und Dank, Einsicht und Verstand durch Gewohnheit versiegte. – Auf Erden war wohl niemand jemals fröhlicher und wonnevoller über dies Geheimnis, als St. Paulus, zuvor der unfähigste gerade dafür, hernach durch Gottes umänderndes Erbarmen der empfänglichste, fähigste unter allen, so wohl Juden und Heiden. Seine Lippen floßen über, seine Feder floß über, wie in unserm Texte, von Bitte an die Menschen, Gebet und Lob zu Gott,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/485&oldid=- (Version vom 1.8.2018)