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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

er lebte darin, er lebte und litt und starb für dies Geheimnis. Seine Volksgenoßen freilich konnten sich von dem Erstaunen, welches Himmel und Erde über Gottes mannigfaltige Weisheit ergriff, nicht erholen; bei ihnen wendete sichs nicht, wie bei den Heiden und im Himmel, zu Preis und Lobgesang. Ihr Stolz war gekränkt, als sie nicht mehr die Einzigen, ihr alttestamentlicher Weg nicht mehr der alleinige sein sollte. Sie verschloßen ihr Herz gegen die Breite und Länge und Höhe und Tiefe der Liebe Gottes, wollten keinen allgemeinen, keinen Weltheiland, sondern eigensinnig einen Judenheiland, von deßen vollen Tischen nur hie und da ein Heide in demüthigender Weise eßen sollte. Ihnen gedieh die alle alttestamentliche Erkenntnis übersteigende Weitschaft und Größe der Liebe Gottes in Christo JEsu zum Unheil; sie fielen von Dem ab, der ihrer Meinung nach zu viel gab. Den Paulus aber, der mehr als alle andern Apostel für das neuoffenbarte Geheimnis eiferte, den fiengen sie, den übergaben sie den Römern, der mußte gefangen sein und leiden in Jerusalem und Cäsarea und auf dem Meere und in Rom, weil er nicht aufhören wollte, den Gott der Länge und Breite, der Höhe und Tiefe unendlicher Erbarmung zu preisen. – Da saß er nun in Rom, gefangen, und schrieb seinen Brief an die Epheser, und darin das dritte Kapitel, und in demselben unsern Text, – der euch nun, hoffe ich, verständlicher werden soll, als ohne diese einleitende Betrachtung über den mächtigen Grund der Bitte, des Gebetes und des Lobgesangs Pauli. – Laßt uns nun zum Inhalt unsers Textes weiter gehen und zuerst die Bitte St. Pauli an die Ephesier betrachten.


 Lieben Brüder! Die Bitte Pauli an die Ephesier ist leicht zu verstehen, leicht vorzulegen, bedarf keiner schweren Abhandlung. Ich erlaube mir, sie durch etwas Aehnliches einzuleiten. Es wird jemand unter euch krank, wie das allen geschieht oder geschehen kann. Tritt der Fall ein, so wird der Kranke ein Gegenstand des Mitleids und der Theilnahme; man sorgt für ihn, man thut ihm das Mögliche. Ist das unter euch nicht so? Wenn nun aber die Krankheit länger dauert, wenn sie nicht im Verlaufe von etlichen Tagen oder Wochen sich zur Genesung oder zum Tode entscheidet, was geschieht dann – allenthalben, sonderlich auch unter euch? Die Theilnahme erkaltet, das Mitleid hört auf, – ja, es kann kommen daß man der Sache müde wird, daß man die unvermeidliche Unbequemlichkeit, die ein Kranker verursacht, zu entfernen, wo nicht, zu gewöhnen, zu übersehen trachtet, und daß man sich Gründe aufsucht, um deren willen man unangefochten und gleichgiltig vor dem Kranken glaubt vorübergehen zu dürfen, wie vor dem unter die Mörder Gefallenen der Priester und Levite. Da kann dann der Jammer steigen, das Uebel sich verschlimmern, der Schmerz Mark und Bein des Leidenden durchdringen: es weint und klagt niemand mehr mit dem Weinenden und Leidenden, sondern um ihn wie um einen dunkeln, wehen Mittelpunkt kann sich – endlich sogar, wenn die Todesstunde kommt, das gewöhnliche Alltagsleben der Seinen unbeirrt und ungetrübt bewegen. Das erlebt man so oft, und das ist so traurig, erweckt so viel gerechten Vorwurf gegen die Menschen unsrer Umgebung. Wenn man nun aber das alles mit ein paar Worten ausdrücken will, so kann man sagen: „so wird man eines kranken Menschen müde!“ Gerade so gieng es dem Apostel mit seinen Leiden. Als er in Jerusalem gefangen genommen, als er nach Cäsarea geführt, vor den Landpfleger gestellt wurde, als alles neu war, da werden die Heidenchristen, seine Jünger, wohl Theil genommen und mitgefühlt haben, denn er litt ja ursprünglich nicht, weil er JEsum als Messias erkannte, sondern weil er den Heiden freie, offene Pforten ohne allen Umweg über den Tempelberg zu Jerusalem zeigte. Da wird es an Trostbriefen, an Liebeserweisungen nicht gefehlt haben. Diese Theilnahme und Liebe mag auch immer wieder neu hervorgetreten sein, wenn eine neue Wendung der Leiden Pauli eintrat, – wenn er zu Schiffe gebracht wurde, wenn er Schiffbruch litt oder vor den Kaiser gestellt wurde und sich das erste Gerücht, die erste Nachricht davon verbreitete. Aber es traten Stillstandszeiten ein: St. Paulus lag lange zu Cäsarea, zu Rom; kein neues besonderes Leiden wurde bekannt. Zwar dauerte an, was anfangs viel Theilnahme erregt hatte, die Gefangenschaft, aber eben weil sie andauerte, gewöhnten sich die daran, die nicht mitgefangen waren. Ihm, dem Apostel, mochte seine Lage je länger je unerträglicher werden; aber den andern wurde sie je länger

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/486&oldid=- (Version vom 1.8.2018)