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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

je erträglicher; sie wurden „müde seiner Leiden“, dachten, sprachen, beteten über sie weniger, und die Zeichen der Gemeinschaft mögen ausgeblieben sein. So was kann St. Paulus empfunden oder vorausgesehen und gefürchtet haben, und deshalb bittet er die Ephesier, „um seiner Trübsal willen nicht müde zu werden“ – und er führt zwei Gründe an, die, jeder für sich schlagend genug, auch in ihrer Aufeinanderfolge, wie wir sie lesen, steigende Kraft und siegreiche Macht besitzen. Der erste Grund ist: „ich leide die Gefangenschaft und was mit ihr zusammenhängt, für euch“, der zweite aber: „meine Leiden sind euch eine Ehre.“ Ganz richtig. Die Epheser waren ja wohl größtentheils Heidenchristen, ohne Proselytentum der Juden durch den freien Zugang der Gnade, welcher sich in der Taufe eröffnete, Christo einverleibt. War nun das ein Unrecht, hatten die Judenchristen Recht mit ihrer Behauptung, daß niemand ein Recht an Christum habe, als wer entweder von Geburt oder doch durch die gemeinsame Beschneidung mit Israel verbunden war: so war aller Segen, den sie bisher gehabt, und ihr ganzes Christentum eine Täuschung; da konnten sie dann verzweifelnd rückwärts gehen oder sie mußten mit Verachtung und Verdammung aller gemachten Erfahrungen noch einmal in anderer Weise Christen werden. Das wäre in der Wirklichkeit eine schreckliche Sache gewesen, und viele würden nach einer solchen Enttäuschung gar nicht mehr zu Christo gekommen sein. Daß aber eben die Judenchristen nicht Recht hatten, war Pauli Satz, den er nicht bloß mit Worten, sondern auch mit seinem Leiden bestätigte. So wurde sein Leiden ein Leiden für die Heidenchristen zu ihrer Ruhe. Wie hätten sie, die Schüler, stehen können, wenn er, der Lehrer, gewankt hätte? Mit ihm standen, mit ihm fielen sie; an seiner Treue hieng ihre Ruhe, so wie sein Wanken ihnen allen Verwirrung gebracht haben würde. Hieng aber so viel für sie von seiner Treue ab, wie durften sie müde werden seiner Leiden, d. i. seiner Treue?! – Seine Leiden geschahen aber nicht bloß für sie, sondern sie gereichten ihnen zur Ehre oder zur Verherrlichung. Es versteht sich, daß von keiner Ehre die Rede ist, welche alle anerkannt hätten oder allgemein gewesen wäre. Litt doch St. Paulus durch Menschen, im Gegensatz zu den Juden und Judenchristen; wie konnten alle seine Leiden als der Epheser und aller Heiden Ehre faßen? Vor denen aber, die Augen hatten zu sehen, war es freilich nur zur Verherrlichung der Heiden, was Paulus erlitt. Der Heiden Herrlichkeit ist die freie Gnade Christi, – die Theilnahme am Reiche Gottes ohne Annahme einer fremden Nationalität, ihre „Freudigkeit und Zugang in aller Zuversicht durch den Glauben an Christum“ (Vers 12). So lange nun die Predigt der freien Gnade erscholl, so lange ihr Herold Paulus unbesiegt durch Widerstand und Leid sie verkündigte, – so lange hatten die Heiden ihre erwünschte Herrlichkeit und Ehre, so lange konnten sie jubeln und triumphieren. Wäre aber Pauli Eifer erkaltet, hätte ihn das Leiden gebrochen; so wäre ihre Herrlichkeit dahin gewesen, weit mehr, als dort die Herrlichkeit Israels, da Pinehas Weib ihren Sohn sterbend nannte Icabod, d. i. „Wehe, die Herrlichkeit ist dahin.“ Wenn aber der Heiden Herrlichkeit in Pauli Beständigkeit aufrecht stand, mit seiner Schwachheit gefallen wäre, wie konnte da Gleichgiltigkeit gegen seine Leiden gerechtfertigt werden? Leidet er für die Heiden, ist sein Leiden sogar zu ihrer Verherrlichung gemeint; so konnte ihr Erkalten in Lieb und Theilnahme nicht gerechtfertigt werden. –

 Der Apostel unterstützt also seine Bitte an die Ephesier mit guten Gründen; aber freilich, Gründe bleiben Gründe, und wenn sie gute Gründe sind, auch unüberwindlichen und hohen Werthes, selbst wenn man sie nicht annimmt. Annehmen aber oder nicht, das liegt im Willen, in der Bereitung, in der Empfänglichkeit, ja in der Stimmung begründet, so daß, wenn Gründe ihren Posaunenton erheben, wohl jeder seiner Seele wahrnehmen und seine Ohren öffnen darf, damit er höre.


 St. Paulus, der Kenner menschlicher Zustände, der Mann von offenen Augen weiß das gar wohl, und je mehr ihm daran liegt, daß die Ephesier die von ihm an sie gebrachte Bitte schon um ihrer selbst willen erfüllen möchten, desto mehr fühlt er sich gedrungen, auf die Bitte an die Menschen zu Ephesus ein Gebet zu Gott folgen zu laßen. Weniger von den Menschen, als von Gott, dem HErrn, erwartet, von Ihm alleine erfleht er am Ende seine Erfolge. Sollen die Ephesier und andere Heidenchristen nicht in ihren eigensten Sachen, in der Vertheidigung ihres

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/487&oldid=- (Version vom 1.8.2018)