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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

uns durchleuchtet, die gewisse Ruhe einer göttlichen Ueberzeugung im Herzen gegründet ist, da sind alle Bedingungen gegeben für ein reiches, überfließendes Leben, da strömen alle Gnadengüter, da mangelt es an nichts mehr, da wird eine Gabe nach der andern erweckt, eine Blüthe und Frucht des innern Lebens zeigt sich nach der andern. Wenn nun auch der Apostel die einzelnen Gaben und Güter nicht auslegt, so wißen wir doch damit, auf welchem Wege wir alles bekommen können, was wir wünschen oder für die Mahnung und Vollendung unseres geistlichen Lebens hoffen, und wer Gott reichen Dank sagen will und reiche Ursach dazu haben, der kann sich zum Ziele helfen, weil er nur Gnade, Wort, Erkenntnis und Festigkeit suchen darf, lauter Dinge, deren eines vom andern abhängt, und alle vom ersten, so daß mit diesem die Quelle von allen eröffnet ist.

 So hat dann der Apostel in den Euch vorgelegten Worten den großen Reichtum der Corinther übersichtlich dargestellt, und man könnte nun fragen, ob denn also für diese Gemeinde gar nichts mehr zu wünschen übrig bliebe? Reich in dieser Zeit an allen Gottesgaben und Gütern, welche zum geistlichen Wohlsein gehören, was sollen sie da noch begehren, was können sie vermissen? Zwar sind viele Arme unter ihnen, und an irdischen Dingen mangelt dem einen viel, dem andern wenig; aber was liegt daran für das innere Wohlsein, das unter allen Umständen und mannigfaltigen Verschiedenheiten des irdischen Looses blühen kann, wenn nur die geistlichen Schätze vorhanden sind? Für diese Welt fehlt nichts mehr, das Fehlende liegt vorwärts in der Zukunft, und diese wird ohne Zweifel den Kindern Gottes, die in der Gegenwart die reichen Pfänder Seiner Gnaden besitzen, eine Herrlichkeit bieten, die ihre kühnsten Erwartungen übertreffen wird. Das sagt auch der Apostel in den Worten: „Ihr habt an keiner Gabe Mangel und wartet nur auf die Offenbarung JEsu Christi.“ Die Zukunft JEsu Christi, du magst nun je nach deiner Einsicht in Gottes Wort darunter jene verstehen, welche am jüngsten Tage sich ereignen wird, oder die zur Verstörung des antichristlichen Reiches und zur Aufrichtung des Reiches David auf Erden, von welchem ebensowohl der Engel redet, welcher der gebenedeiten Mutter die Geburt ihres Sohnes ankündigte, als die Jünger am Auffahrtstage ihres hochgelobten HErrn – die Zukunft JEsu Christi, Seine persönliche, siegreiche Erscheinung, Sein mächtiger Eintritt in den Schluß aller Geschichte ist aller Apostel Ziel und Sehnsucht; sie nennen dieselbe geradezu Hoffnung, ja die Hoffnung. Niemand war im apostolischen Zeitalter mit dem, was da war, zufrieden, denn jeder wußte, daß der HErr für die Zukunft noch etwas versprochen hatte, welches, wenn es groß genug war, um von Ihm versprochen zu werden, auch groß genug sein mußte, um von uns erwartet zu werden. Was für einen Reichtum hatten die Corinther, wie voll aller Güter war ihre Seele und ihr ganzes Leben: der Apostel dankte dafür, wie wir wißen, so oft er an die Corinther gedachte. Dennoch fehlte ihnen allen etwas, das erst kommen muß, die persönliche, leibliche Erscheinung ihres HErrn, Sein Anschauen, wie man es in den vierzig Tagen zwischen Ostern und Himmelfahrt zu genießen hatte. Reich in allen Stücken leben sie dennoch in der Spannung, noch mehr zu empfangen, und mit der süßen Befriedigung für die Gegenwart vereinigt sich ein heiliges Verlangen nach der Zukunft. Hätten sie dieses Verlangen nicht gehabt, so wären sie weniger gegen die Gefahr des Ermattens geschützt gewesen, denn den Menschen, welcher glücklich und aller Güter voll ist, überfällt die Sicherheit und die Trägheit, wie eine schwere Last, wenn er nicht immer vom Zuge der Zukunft und von einer Hoffnung angefrischt wird. Aller geistliche Reichtum ohne Hoffnung ist daher nicht geeignet, den Menschen völlig glücklich zu machen und ihm dies Glück zu sichern; man kann sagen, daß zum wahren Reichtum die Hoffnung wesentlich gehöre, wie zum wahren Besitze die Verwendung, ohne welche das Wort wahr wird, das geschrieben stehet: wer nicht hat, dem wird auch genommen was er hat. Indem daher der Apostel von dem Warten der Corinther auf die Wiederkunft ihres HErrn redet, macht er im Grunde nur das Verzeichnis ihres Glückes vollständig; er setzt demselben damit keine Grenzen, er erweitert es, und zeigt ihnen so den Grund und Boden, auf dem sich sein letzter Wunsch für sie erfüllen kann.

 Noch leben ja die Corinther in der Zeit, sie besitzen reiche Güter und warten auf Den, der da kommen soll, als auf die Krone aller ihrer Güter, sie sind also reich und glücklich, denn sie haben alles

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/501&oldid=- (Version vom 1.8.2018)