Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/505

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

erste im Allgemeinen von der Erneuerung handelt, während der zweite drei herrliche Früchte des neuen Menschen in uns darlegt. In derselben Ordnung wie der Text ergeht sich diesmal auch dieser Vortrag. Laßt uns einen Theil desselben nach dem andern betrachten.

 In dem ersten Theile wird zuvor der alte Mensch, den jeder Christ in sich trägt, von dem neuen unterschieden, welchen gleichfalls jeder Christ in sich hat. Nachdem sie unterschieden sind, wird ihr Verhältnis zu einander gezeigt, wie es ist und wie es sich gestalten soll.

 Was „alter Mensch“ heiße, ist euch allen bekannt. Es ist darunter jener Zustand gemeint, der mit uns geboren wird, deßen wir auch von Natur nicht los werden können, jener nicht anerschaffene aber uns angeborene, mit all seinem Hang, mit aller seiner Neigung und Abneigung, seiner Lust und Unlust. Mag man sich die äußere Gestalt und Ausprägung des alten Menschen denken, wie man will, dazu auch seine Macht und Gewalt noch so groß, immerhin ist er dazu verurtheilt aufzuhören, und so wie der Mensch ins Christentum eintritt, geht es mit der Herrschaft dieses Zustandes zu Ende, der alte Mensch kommt ins Abwesen, so zäh er sei, so schwer er sich entschließe zu sterben, und der ihm gemäße Wandel heißt von dem Eintritt ins Christentum an der vorige, denn seine Herrschaft ist vorüber, nun herrscht ein anderer. In diesem Zustande des alten Menschen gehorcht der Mensch den Lüsten, diese locken ihn, ja sie zwingen ihn; wie ein Thier in die Falle geht, so folgt er den Lockungen, und wie ein Ochse zur Schlachtbank gezogen wird ohne seine Kraft gegen den Zug nur zu gebrauchen, so läßt sich unser natürlicher Mensch dahin ziehen zur Büßung der schnöden Lust; ja wie ein Schiff vom scharfen Winde dahingerißen und vom Sturme hin und her geworfen wird, so wird das arme Herz im natürlichen Zustande oftmals vom Winde seiner Lust beherrscht. Man sagt wohl oft, ein Mensch solle nach Grundsätzen leben, und schon in früher Jugend lernt man das Sprüchlein: „Ein Thier folgt Trieben der Natur, ein Mensch dem Licht der Seelen“; aber es wird damit nur gesagt, was der Mensch soll, nicht was er thut; in der Wirklichkeit verhält sichs ganz anders, der Mensch folgt Trieben der Natur und nicht dem Licht der Seelen. Wenn zuweilen einmal irgend ein heidnischer Tugendheld eine Ausnahme zu machen scheint, so scheint es eben nur, und so viel das Gewißen und die Vernunft unter dem Einfluße des natürlichen Lichtes auch leisten mögen, es ist doch alles mit einander nur eine mühsam abgerungene Scheinfrucht und nur ein Vorbild deßen, was kommen soll, ein Stück vom alten Menschen und seines vorigen Wandels. – Von diesen Lüsten, die den alten Menschen beherrschen, sagt der Apostel in unserem Texte, sie seien Lüste des Betrugs. Sie gewähren nicht, was sie versprechen. Vor ihnen her geht eine Fahne des Glückes, hinter ihnen aber kommt der heulende Schmerz bitterer Enttäuschung. Man braucht nicht lange gelebt zu haben, um die Wahrheit des apostolischen Ausdrucks zu erkennen. Die Lust der Lüste, an der sich die Natur aller andern am kenntlichsten zeigt, ist die Jugendlust wider das sechste Gebot, die Geschlechtslust. Sie verheißt den Menschen goldene Berge und ein Paradies der Freuden, und was gibt sie? Selbst in der Ehe meistens nur einen bittersüßen Trank, ein Glück, das keine, edlere oder bewußte Seele zufrieden stellt, dazu eine ganze Welt voll Sorge und Mühsal und Schmerz im Leben, das in einem andern Lichte, als in dem natürlichen angeschaut sein muß, um gepriesen werden zu können. Auf außerehelichen Wegen aber bringt diese Lust entweder schamlose Entartung und Verhärtung bei niederträchtiger Gemeinheit, oder Wehe und Leid, Jammer und Noth, Hilflosigkeit, Krankheit, auch allzufrühen Tod. So geschieht es denn, daß die Lust den Menschen nicht bloß täuscht, sondern wie St. Paulus nach dem Wortlaut unseres ersten Verses sagt, daß der alte Mensch verdirbt, untergehen muß in Noth und Jammer, nach den Lüsten des Betrugs, nach den betrüglichen Lüsten. Das ist sein Ende, das er auf seinem eigenen selbsterwählten Wege findet. Er betrügt sich mit Lüsten, denn er geht dem Verderben entgegen, gerade auf seinem eigenen Wege unaufhaltsam entgegen, auf dem Wege jeder Lust entgegen, welcher Art sie sei. Denn das ist das Urtheil des Allmächtigen und Heiligen, daß sich der alte Mensch durch Lüste in Irrtum verderbt und verderben muß.

 Gegenüber dem alten Menschen erscheint in unserem Texte sein Gegentheil, der neue Mensch. Niemand kann sagen, daß der alte Mensch eine Creatur

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/505&oldid=- (Version vom 1.8.2018)