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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wenn man daraus auch entnehmen könnte, daß es also auch einen Zorn gebe, der nicht Sünde ist, so ist es doch die nächste Absicht Pauli, den unzähligen Versündigungen durch Zornmuth ein Ziel zu stecken; Zornmüthigkeit soll abgelegt werden. „Laßet die Sonne nicht untergehen über eurem Zorne, gebt auch nicht Raum dem Lästerer,“ ruft er. Damit treibt er ja zu friedfertiger Versöhnlichkeit. Daß in einem Menschen, auch wenn er Christ ist, ein Zorn entbrenne, eine Bitterkeit sich rege, ist leicht möglich und wahrscheinlich obendrein: aber bleiben soll keine Verbitterung; ehe man sich niederlegt zum Schlafe, soll das Herz wieder in Ruhe und Liebe sein, dem Teufel und seinen Genoßen, die sich freuen, wenn der Zorn einheimisch wird, mit all den misgestaltigen Ungeheuern seines Geschlechtes soll keine Zeit noch Raum gelaßen werden; ehe sie beikommen und sich der Sache bemächtigen können, soll der wankende Friede wieder aufgerichtet, die brüderliche Stimmung gegen die Beleidiger, geschweige gegen den Beleidigten wieder vorhanden sein.

 Merkwürdig ist es, daß der Apostel in diesem Brief an die Ephesier an die allgemeine Vermahnung, den alten Menschen aus, den neuen anzuziehen, zunächst diese drei besonderen Ermahnungen anschließt, wie wenn sie vor allen zu erwähnen wären, wie wenn das Bild Gottes durch nichts mehr entstellt würde, als durch die drei Laster: Lüge, Zorn und Diebstahl; wie wenn es durch nichts glänzender hervorträte, als durch Wahrhaftigkeit, Versöhnlichkeit und milden Fleiß. Man könnte die Frage aufwerfen, ob denn diese drei Erweisungen der innerlichen Erneuerung bei allen Gemeinden und allen Menschen die ersten seien, auf welche zu dringen sei? Man könnte eine verneinende Antwort versuchen, aber so wie man sie versuchen würde, würde man auf der Stelle inne werden, mit welchem sicheren praktischen Blicke der Apostel die Gemeinden vermahnt. Wenigstens wird ein Kenner der hiesigen Gemeinde sein Verfahren völlig richtig finden. Es war bei den Ephesiern, wie bei uns, es ist bei uns wie bei den Ephesiern: nichts ist gewöhnlicher als Lüge, Zorn und Diebstahl, nichts erbaut mehr und ist segensreicher, als Wahrhaftigkeit, friedfertige Versöhnlichkeit, mildthätiger Fleiß. Es wird daher allerdings nicht mit Unrecht allen Gemeinden und allen Christen zugemuthet werden dürfen, daß sie ihre Erneuerung zu allernächst in den drei vorgelegten Stücken beweisen und offenbaren mögen.

 Ich darf es dabei, meine lieben Brüder, nicht unterlaßen, euch auf etliche Einzelheiten aufmerksam zu machen, die wir in den Sündervermahnungen des heiligen Apostels, wie sie in unserem Texte vorliegen, bemerken. Bei der Ermahnung zur Wahrhaftigkeit, bei der Warnung vor der Lüge begründet er seine Rede durch die Worte: „Wir sind untereinander Glieder,“ Glieder Eines Leibes, nemlich der heiligen Kirche. Was liegt darinnen anderes ausgesprochen, als daß die Lüge eine arge Sünde gegen die kirchliche Gemeinschaft sei, daß die Bruderliebe vor allen Dingen wahrhaftig machen müße. Was kann denn die Lüge unter denen für einen Zweck haben, die in Zeit und Ewigkeit alles gemein haben, die durch göttliche Wahrheit und Offenbarung von oben nicht bloß erkannt haben, daß die Lüge dem Reiche Gottes in den höheren und niedrigeren Regionen des Lebens widerstrebt, sondern auch, daß das eigne Herz durch jede Lüge mit einer neuen Last und mit neuer Finsternis belegt wird? Was kann überhaupt die Lüge für einen Zweck haben für denjenigen, der nichts sucht, als das Heil seiner armen Seele? Dient sie auch zuweilen, uns vor Menschen in einem schöneren Lichte erscheinen zu laßen, als wir vor Gott stehen, so kommt ja doch die Enttäuschung und die unerbittliche Wahrheit mit jedem Tage mehr herzu; jenseits des Grabes gilt ja kein Schein mehr. Wenn man auch sagen wollte, daß durch ein wahrhaftiges Benehmen in allen Stücken oftmals mehr Aergernis gegeben werde, weil mehr Sünde ans Licht tritt, so wird doch die Gemeinde der Brüder durch die Buße, die sich in der wahren Darlegung aller Dinge aussprechen muß, weit mehr im Guten gestärkt, als durch den Heuchelschein der Lüge, der nun einmal doch nicht auch die Kraft eines gesegneten wahrhaftigen Beispiels borgen kann. Die Wahrhaftigkeit in allen ihren Gestaltungen, namentlich in der der Buße ist wie ein frischer Lebenswind, der alles befruchtet, während die Lüge in allen Fällen ein giftiger Nebel ist, der alles Kraut verdirbt. Daher kann man für diesen wie für alle Fälle behaupten, daß Wahrhaftigkeit die rechte Hand der Bruderliebe sei, und daß, wer lieb hat, sich vor allem der Wahrheit zu befleißen habe.

 An der zweiten Stelle warnt der Apostel vor

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/508&oldid=- (Version vom 1.8.2018)