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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

muß erst leben, geboren sein und eine Arbeit der Erzieher annehmen und anwenden können. Wir sehen also nach dem gestrigen Texte um die Krippe her das Volk versammelt, das JEsu würdig ist, schon geboren und für die Erziehung des HErrn gereift. Es gibt kein würdigeres Volk, als das, welches in der Erziehung der himmlischen Gnade steht und mit heiliger Entschloßenheit der Führung der Gnade folgt. Die Menschen dieser Art sind die einzig mündigen auf Erden. Wer schon fertig sein will, schon erzogen, der gleicht dem frechen Jungen, welcher, ergriffen von der Jugendlust der Ungebundenheit, wider die Zucht des treuen Vaters ausschlägt und damit nur beweist, daß er sein eignes Heil nicht versteht. Je mehr die Erziehung vollendet ist, desto mehr Lust hat ein Mensch zu Ordnung und Gehorsam, desto lieber wird ihm die Unterordnung, desto woler befindet er sich bei Ausrichtung eines höhern Willens. Nun ist es offenbar ein schöner Weihnachtsgedanke, die Krippe des HErrn in Mitte eines heiligen, mündigen Volkes zu sehen. Ein nicht minder schöner Weihnachtsgedanke ist aber derjenige, welcher in der heutigen Epistel am meisten hervortritt, nemlich der Gedanke von der Geburt des Eigentumsvolkes durch die heilige Taufe. Der Menschwerdung des ewigen Gottes entspricht so schön die Neugeburt seines Volkes, durch welche wir Seiner eigenen heiligen Geburt teilhaftig werden. Wir sehen also heute die Krippe des Neugebornen mitten unter einem Volke, welches selbst neugeboren wird. Die Krippe wird zum Nachen, in welchem der Menschensohn liegt. Sie steht in einem großen Teiche Bethesda, zu welchem die Schaaren der erlösten Menschheit kommen, untertauchen und durch die Gnade des Neugebornen neue Menschen werden. Wenn sie zum Teiche herankommen, sind sie ganz andre Leute, als wenn sie deßen Waßer gebraucht haben, das zeigt der Text ganz deutlich. Der Apostel sagt ja im 3. Verse des dritten Kapitels an Titus, also unmittelbar vor der heutigen Epistel: „Wir waren auch weiland unweise, ungehorsam, irrige, dienend den Lüsten und mancherlei Wollüsten, und wandelten in Bosheit und Neid und haßeten uns unter einander.“ So sind die Menschen vorher, ehe die Gnade der Taufe über sie kommt, aber dann wird es anders. Denn St. Paulus fährt fort: „Da aber die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes unsers Heilandes erschien, rettete er uns nicht durch die Werke der Gerechtigkeit, die wir gethan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit, durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes, welchen er ausgegoßen hat über uns reichlich, durch JEsum Christum unsern Heiland, auf daß wir, durch desselben Gnade gerecht geworden, nun auch Erben würden des ewigen Lebens nach der Hoffnung.“ Da sieh die mächtige Aenderung. Wie abscheulich ist das Volk der Menschen vorher, ehe sie getauft sind; aber wenn sie getauft sind, da sind sie gerecht geworden aus Gnaden und Erben des ewigen Lebens. Allerdings sind sie nicht gerecht geworden durch eine Aenderung, die aus ihrem eigenen Entschluß und Willen entstanden, nicht durch eine Anstrengung der Gerechtigkeit, die sie gethan hätten. Es gibt schon eine Beßerung, die aus dem Entschluß des Menschen hervorgeht; auch unter den Heiden kann man Aenderungen beobachten. Es gibt Trinker, welche durch eigne Anstrengung aufhörten zu trinken, Wollüstige, die von ihrer Wollust ließen, überhaupt eine heidnische Tapferkeit der Selbstüberwindung, die man oft zur Beschämung der Kinder der Gnade an’s Licht ziehen und vorstellen kann, eine menschliche Ehrbarkeit, welche schöner ist, als Morgen- und Abendstern. Wer das läugnen wollte, würde die Wahrheit sicherlich nicht auf seiner Seite haben. Aber so hoch man auch diese Aenderung aus natürlichen Kräften anschlagen wollte, sie ist doch nichts gründliches, auch nichts durchgreifendes, sondern ein armes Stückwerk, mit welchem sich Niemand zufrieden geben kann, der nicht blos auf der Oberfläche bleiben will. Welcher Mensch wäre jemals seiner Werke froh geworden? Mir scheint, es müße ein jeder ein Heuchler genannt werden und ein Lügner wider beßere Erkenntnis, der sich im Ernste und im Allgemeinen seiner eignen Werke rühmen kann. Nicht die sich rühmen, sind die heiligen Seelen, sondern die Heiligen sind allezeit mit sich selber unzufrieden. Je heißer die Bußthräne, desto heiliger das Herz, und je heiliger das Herz wird, desto heißer wird in der That die Thräne der Buße. Es mag Stunden geben, in denen der Mensch ohne Hochmut seiner in Gott vollbrachten Werke sich freuen kann, und wir bedürfen ja auch solcher Stunden, damit wir nicht in unserm Sündenjammer untergehen; aber wenn solche Stunden vom heiligen Geiste gewirkt sind, dann wechseln sie schnell mit andern Stunden,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 045. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/52&oldid=- (Version vom 1.8.2018)