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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

maßloser Schwärmer, kein Ketzer, kein offenbar Abfälliger hat jemals den Einfluß gehabt und den Fluch gebracht, wie der Halbe, der mit dem Scheine der allseitigen Gerechtigkeit und Billigkeit zugleich einen andern Schein verbindet, den nämlich, als habe er einen besonders gedeihlichen und gesegneten Weg eingeschlagen. Ihr Bauchdienst, ihr Ehrgeiz, ihr zum Ziele des stillen gemächlichen Lebens strebender Fleiß gefällt allerlei Menschen und sie bilden die sogenannte gerechte, in der That aber falsche Mitte, von der ein falsches lateinisches Sprüchwort sagt, daß selig sind, die die Mitte halten; von denen es im Sinne unsers Textes in der That aber richtiger wäre, zu sagen: „Verdammt sind die Halben.“ Ein starkes Wort, wie ich fürchte, aber wie ich glaube, nicht stärker als wahr und angemeßen dem apostolischen Sinn und mächtigen starken Ausdruck gegen die Halben.

 Gegenüber den falschen, ärgerlichen Beispielen der Halben stellt der Apostel sein eigenes Beispiel: „Seid meine Nachfolger, lieben Brüder, so schreibt er, und sehet auf die, welche also wandeln, wie ihr uns habet zum Vorbilde.“ Hierin spricht sich St. Pauli gutes Gewißen aus, ein gutes Gewißen rücksichtlich der Lehre, rücksichtlich der Absichten, rücksichtlich des Wandels. Gutes Gewißen nenne ich es, nicht Hochmuth, daß St. Paulus also redet und reden darf. Wäre wirklich in seinem Wort und in seinem Wandel etwas gewesen, damit man ihn der Unlauterkeit und vorhandener falscher Absicht hätte zeihen können: er würde es wohl unterlaßen haben, sich selbst zum Vorbild aufzustellen und andere zur Nachfolge aufzufordern. Es bedarf aber hoffentlich bei uns keiner Vertheidigung, die wir vor einem Apostel JEsu die größte Ehrfurcht haben, an seine Demuth und Lauterkeit glauben und überdies durch eine genauere Erwägung seiner Worte die verstärkte Ueberzeugung gewinnen, daß wir an ihm das nachahmungswertheste Vorbild haben.

 Gegenüber den Feinden, vor welchen er warnt, hätte St. Paulus sich vor allem einen Freund, einen Liebhaber des Kreuzes Christi nennen und die Philipper auffordern können, vor allem in der Freundschaft und Liebe des Kreuzes ihm nachzufolgen. Allein davon sagt er nichts. Was braucht er sich seiner Liebe zum Kreuze zu rühmen, wegen welcher nicht bloß die Philipper, sondern alle Christen auf ihn das Auge gerichtet haben? Es war in Pauli Leben viel Auffallendes im besten Sinne, viel Hervortretendes, Unleugbares; aber gewis war nichts augenfälliger, nichts bekannter, nichts anerkannter als sein, alles menschliche Verdienst ausschließender, Ruhm und Preis des Kreuzes Christi. Davon kann er ganz schweigen. Seine Feinde wißen das so wohl, daß sie es ihm zum größten Fehler anrechnen. Seine Freunde hingegen erkennen denselben Umstand als größte Tugend, als leuchtendsten Vorzug Pauli an. Sie fühlen es auch nicht bloß durch, daß eine Nachfolge Pauli ohne gleiche Lust und Liebe zu Christo und Seinem Kreuze gar nicht denkbar war; sie sind sich’s bewußt, sie verstehen seine Rede nicht anders; sie werden ohne Zweifel es einander selbst haben sagen können und gesagt haben, daß kein Nachfolger, sondern ein Feind, ein von ihm selbst bemistrauter und angefochtener Feind sein müßte jeder, der ein Feind des Kreuzes Christi genannt werden konnte. Feinde des Kreuzes JEsu können keines Apostels Nachfolger sein, geschweige Pauli, deßen ganzes Wort, seine Schrift und sein Leben sich ums Kreuz gläubig und liebend rankt, wie die Rebe um die Ulme.

 Von seiner Liebe zum Kreuze und dem Beispiele, welches er damit gab, schweigt also der Apostel zunächst; aber sein Schweigen ist beredt genug, sein Leben redet mit lauter Stimme. Gegenüber dem andern Inhalt her Bestrafung seiner Feinde redet aber der Apostel Worte voll erhabenen, feierlichen Ernstes. Von den Feinden hatte er gesagt: „sie suchen das Irdische“. Dem gegenüber spricht er die allbekannten Worte: „Unser Wandel aber ist im Himmel.“ „Unser Wandel“, d. i. unsre Bürgerschaft, unser Bürgerrecht, unser Handel und Wandel, unsre Heimath. Der Apostel kann der Lehre vom Kreuze anhangen, auch wenn er darüber das Zeitliche verliert, auch wenn er bei den Juden an Gut und Ehre verarmt. Warum? weil er eine Stadt hat, die von Gott erbaut ist, das himmlische Jerusalem, und in demselben eine unveräußerliche Bürgerschaft, ein Heimathsrecht, das ewige, unverwelkliche Vortheile gewährt. Das Kreuz Christi ertödtet freilich alles Irdische, auch den Sinn für das Irdische, aber es sichert als Verdienst JEsu eine ewige und selige Heimath zu. Zu dieser ewigen Heimath strebt der Christ, der unter dem Kreuze lebt: los von eigener Gerechtigkeit,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/532&oldid=- (Version vom 1.8.2018)