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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

jede irdische Heimath ohne Leid und Thränen verlaßen kann. Da sucht man aber auch nach der hehren heiligen Gestalt des Sohnes Seiner Liebe selbst, und sie, sie ist keine andere als die, welche im Evangelium des Tages eben so groß, als herzgewinnend vor unsern Augen hingeht. Da sieh, Er geht. Er eilt zum Töchterlein Jairi, daß Er sie von dem Tode auferwecke. Der Glaube des Vaters zieht Ihn hin. Unter Wegs hält Ihn der Glaube des blutflüßigen Weibes. Die Berührung Seines Saumes wird ihr heilsam; Er aber weiß es, Ihm nimmt auch keine heimliche Hand aus Seiner unermeßlichen Fülle eine Gabe, ohne daß Er Sich als Geber fühlte. Er hilft den Verborgenen, die Sein begehren, – und hilft auch dem Vater Jairus, der um das erneute Erdenleben seiner Tochter fleht. Das Reich der Noth, der Krankheit, des Todes, das ganze Reich der Finsternis muß vor dem großen König weichen. Wie das Licht vor der Sonne hergeht und sie rings umgibt; so geht geistlich Licht und allmächtige Gewalt vor unserm König her und umwebt Ihn. Im Evangelium sehen wir Ihn, wie Er bemüht ist Sein Reich aufzurichten; in der Epistel jauchzen wir darüber, daß dies Reich vorhanden ist und wir hineinversetzt sind. Das Evangelium zeigt den König, die Epistel das Reich desselben. Dort erscheinen einzelne Züge Seiner Herrlichkeit, hier ist all Sein Reich und Reichtum angezeigt als da, – und wir erkennen uns als Bürger und ansäßige Kinder des Reiches und großen Königs.

 Dies die Verbindung unsrer Texte, und nun laßt uns betrachtend vorwärts gehen von einem Gedanken der Epistel zum andern, bis wir wieder zum hohen Schluß gelangen, an welchem sich Evangelium und Epistel zusammenschließen.

 Unsre Epistel hat eigentlich zwei Theile, deren erster V. 9. 10 und der zweite einen Theil von V. 10 bis 14 umfaßt. Beide Theile enthalten ein Gebet des Apostels Paulus, welcher im ersten seinem allgemeinen Inhalte nach, im zweiten aber nach der Ausführung ins Besondere vorgelegt wird, welche gerade für die Colosser nöthig war. Da jedoch der Schluß des zweiten Theils vom 12. Verse an in das schon berührte Dank- und Lobgebet Pauli ausläuft, welches der gesammten Christenheit von Anfang her unauslöschlich ins Gedächtnis geschrieben ist, so könnten wir geneigt werden, drei Theile des Textes anzunehmen: die Bitte St. Pauli für die Colosser im allgemeinen, dann insbesondere, und endlich Lob und Preis des HErrn. Colossä war eine Stadt, in welcher die Gemeinde nicht von Paulo selbst gegründet war, – ein Umstand, welcher für diesen ersten Theil unsers Textes nicht unwichtig ist, zumal wenn wir es mit den Worten genau nehmen, welche vor uns liegen. Wir haben mehrere epistolische Texte im Laufe des Kirchenjahres gelesen, welche sich mit Dank und Gebet für andere beschäftigen. Erst am achtzehnten Sonntage nach Trinitatis lasen wir Dank und Gebet des Apostels für die Gemeinde von Corinth; noch kürzere Zeit ist es aber, daß wir Lob und Dank desselben Apostels für die Corinther lasen; es geschah erst vor vierzehn Tagen, am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis. Allein diese beiden Danksagungen und Bitten stiegen zu Gott auf für Gemeinden, welche der Apostel selbst gestiftet hatte, welche im Kindesverhältnis zu ihm standen; ihm deshalb auch begreiflicher Weise wie Kinder dem Vater am Herzen lagen. Fürbitte und Dank ist in solchen Fällen, wenn man so sagen darf, natürlicher, und so groß und hoch uns St. Pauli betendes Beispiel erschien, so sehr wir beim Vergleich mit ihm Ursache fanden, uns zu schämen; so gibt uns doch die heutige Epistel noch mehr Ursache, das Herz voll Liebe und Andacht zu bewundern, welches in der Brust Pauli schlug, und uns voll Scham und Selbstgericht in den Staub der Buße zu legen. Paulus betet ja für Leute, welche er nicht kennt, welche nicht seine Kinder sind und mehr in das brüderliche, als in das kindliche Verhältnis zu ihm gesetzt werden können. Man könnte beim Anblick in den Text sagen, man merke doch, daß das Verhältnis Pauli zu den Colossern ein etwas ferneres gewesen sei, weil er nur bete, nicht auch für die Gemeinde in Colossä danke; aber man darf ja nur die Lection statt beim neunten beim dritten Verse beginnen, so wird man schnell den Irrtum bemerken. Ja wohl dankt der Apostel für die Colosser, wenn euch unser diesmaliger Text erst bei Darlegung des Gebetes beginnt. Obwohl also die Colosser nicht seine Kinder sind, ist doch seine Liebe zu ihnen durch die von Epaphras gegebene Nachricht so groß und überfließend, daß er für sie danken und beten kann, wie

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/536&oldid=- (Version vom 1.8.2018)