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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

vor sich gehen, daß sie dadurch ihren entschlafenen Brüdern ähnlich werden. Wie es aber auch sei, wie sie aus diesem in jenes Leben versetzt werden mögen; sie werden hinein versetzt und ihre Leiber denen der auferstandenen, zuvor entschlafenen Christen ähnlich. Und wie diese „mit Christo geführt werden“, so werden auch sie „zugleich mit ihnen dahingerißen werden in den Wolken zur Begegnung des HErrn in die Luft und also bei dem HErrn sein immerdar.“ Diese Worte Pauli geben zugleich eine anschaulichere Ausführung deßen, was von den auferstandenen Heiligen mit den Worten „mit Ihm führen“ gesagt ist. „Dahingerißen“, mit Gewalt entführt, trotz allem Zorn des bösen Feindes und aller Misgunst der ewig Verlorenen dahingezückt werden – welch ein Bild der Macht Deßen, der gesagt hat: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ – „In den Wolken hingerückt werden“, wie erinnert das an die Auffahrt Deßen, dem alle diese Auferstandenen und Verwandelten nachfahren und Himmelfahrt halten werden. – „Zur Begegnung“, was für ein Ausdruck! Da kommt Er in Seiner Majestät zur Rache wider alle Seine Feinde, Gerechtigkeit und Gericht ist Seines Thrones Feste, auf welchem Ihn Seine Cherubim tragen; aber Seine Auserwählten, die in der Wonne ihrer Auferstehung und Himmelfahrt Ihm entgegenkommen, die erfahren keinen Zorn, die werden aufgenommen wie die Braut von dem Bräutigam; da gibt es eine Begrüßung, wer kann die beschreiben oder auch nur nach Würden denken! – „Begegnung in der Luft“ – was ist dagegen die Begegnung Petri und Christi auf dem Waßer!? Zumal dann kein zagender Petrus, sondern eine Braut voll Zuversicht und Vertrauen dem HErrn entgegenkommt! – „Immer bei dem HErrn sein“, keine Trennung in Ewigkeit mehr erleben, – nicht mehr den Edlen wegziehen sehen und dann bloß im Glauben leben müßen! Ihn ewig haben und schauen! – Es kann doch kein Mensch leugnen, daß auf diese Weise die Hoffnung des Christen in einer wunderbaren Weise beschrieben ist.

 Aber Fragen könnten bei Gelegenheit gerade dieser apostolischen Stellen genug aufgeworfen werden, Fragen, welche zu beantworten Meister in der Schriftauslegung nöthig sind, – Meister, von Gottes Geist durchdrungen. Kaum ist in unsern Tagen etwas mehr bewegt oder besprochen worden, als die letzten Dinge, von denen eben unser Text redet. Es ist, wie wenn die ganze protestantische Kirche in zwei Heerlager auseinandergehen wollte um der Hoffnung willen Israels, um des Antichristus und des tausendjährigen Reiches willen, – ja auch um der Zukunft willen Christi, welche nunmehr eben so oft als eine noch zwiefach bevorstehende bezeichnet wird denn als eine nur noch ein einziges Mal eintretende. Auch unser Text kann mit in den Streit hineingezogen, es kann die Frage aufgeworfen werden, von welcher Wiederkunft Christi die Rede sei, von der zur Zerstörung des Antichristus, oder von der zur Zerstörung der Welt; – von welcher Auferstehung die apostolische Feder schreibe, ob von der ersten oder von der zweiten? St. Paulus belehrt dieselben Thessalonicher, an welche unser erster Brief geschrieben ist, im zweiten Kapitel des zweiten Briefes ausdrücklich, daß der HErr nicht vor dem großen Abfall, nicht vor Offenbarung des Kindes des Verderbens, des Menschen der Sünde, des Antichristus komme. Also stimmt er nicht bloß mit der jüdischen Kirche seiner Tage, sondern auch mit Daniel, dem Seher der Geschichte im Alten Testamente, und mit Johannes, dem Apocalyptiker, in der Lehre von einem persönlichen Antichrist zusammen. So mag denn daraus mit Sicherheit geschloßen werden, daß er auch sonst keine andere Lehre von der Hoffnung führte: daß er also ein tausendjähriges Reich, welcherlei Art es sei, gelehrt haben müße, ebendeshalb auch eine doppelte Auferstehung, eine besondere und eine allgemeine. Ist aber das der Fall und hat St. Paulus zu Folge seiner Lehre die nächste Gegenwart Christi nicht als zum allgemeinen Gericht, sondern als zur Zerstörung des antichristischen Reiches für bevorstehend erachtet: so kann man danach auch die Antwort zu geben versuchen, welche unsern Text betrifft. Wie sie unter solchen Voraussetzungen ausfallen wird, kann keine Frage sein.

 Indes, meine theuern Freunde, gibt es außer unserm heutigen Texte noch viele, die von JEsu eigenem Munde herstammen und dasselbe Gepräge, wie St. Pauli heutige Stellen, tragen. Der Schriftforschung unserer und nachfolgender Tage bleibt eben hier, auf dem eschatologischen Gebiete, noch recht viel

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/544&oldid=- (Version vom 1.8.2018)