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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Man kann an einem Menschen eine Menge Flecken und Sünden sehen, weil sie da sind, – und doch kann man barmherzig gegen ihn sein, weil man ihn nicht verdammt, sondern trägt und sich mit ihm geduldet. Man kann aber auch an einem Menschen eine Menge Fehler nicht sehen, die er hat, aber einen von ihnen so groß, und schwer ansehen, daß man ihm um deswillen alle Leitung des Geistes Gottes, alle Bestrafung desselben, alle Aufrichtigkeit abspricht, daß man sich erlaubt, ihn wie einen Heiden und Zöllner zu achten. So leichtfertig war man in frühern Zeiten, da man nach Matth. 18. die Kirchenzucht warnahm, mit nichten. Wie oft heißt es in unsern Tagen: „Es ist nichts mit dem“, – und warum? Weil er eine allerdings abscheuliche Aeußerung gethan, weil er öfters eine Pflicht verletzt, weil er in einem Lebensverhältnis dem Bilde JEsu nicht treu ist. „Ich meine, heißt es dann, wer einmal das sagen, das thun, so sich benehmen kann etc., mit deß Christentum kann es nichts sein.“ So schnell verdammt Gott nicht! ER ist barmherziger, als Menschen sind, ER wird viele, die du dort nicht suchtest, in den Reihen Seiner Seligen dir zeigen! Drum verdamme nicht unbarmherzig! – Aber wenn dir Einsicht und Licht in ein verdammlich Leben des Heuchlers oder Gleißners gegeben ist und du zum Reden Beruf hast, so rede und wenn es verdammt wäre. Manchem ists die letzte Barmherzigkeit, die man ihm thun kann, wenn man ihm Gottes Bann und Verdammnis ankündigt.

 So ist es mit allem, was dies Evangelium im Einzelnen sagt; es muß, wie die einzelnen Lehren der Bergpredigt alle, nicht allzubuchstäblich, sondern nach Sinn und Zusammenhang des göttlichen Wortes begränzt und gemäßigt werden. – Nicht alles durchzugehen, ist hier Raum. Aber nur noch an das Vergeben werde erinnert. Du würdest den Befehl: „Vergebet!“ völlig falsch verstehen, wenn du deinem Nächsten vergeben wolltest, was er an Gott oder an andern, als an dir selbst, gesündigt hat. Du kannst allein für dich barmherzig im Vergeben sein. Du bist in fremdes Gebiet eingefallen, wenn du deinen Nächsten für andere Sünden entschuldigst, als für an dir begangene. Ja nicht einmal, was an dir begangen, darfst du vergeben, als müße deinem Nächsten hauptsächlich an deiner Vergebung gelegen sein. Vergiß nicht, daß auch für das, was an dir gesündigt wird, der Spruch gilt: „An Dir alleine (o HErr) habe ich gesündigt.“ So weit es dich angeht, sei barmherzig, zürne nicht, dulde, trage. Aber wo dein Reich aufhört, da maße dir das Recht, zu begnadigen, nicht an; sondern bedenke, daß dir auch geschrieben steht zum Vorbild: „Ich haße ja, HErr, die Dich haßen!“ Auch hier ist eine Grenze der Barmherzigkeit!


Am fünften Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 5, 1–11.

 NImm, freundlicher Leser, aus diesem Evangelium einige Lebensregeln willig auf.

 1. Aus dem Benehmen des weisen und barmherzigen Heilandes, der die geistliche Noth des Volks und die leibliche Noth Petri sah, aber jener zuerst abhalf, diese durch Verzug scheinbar erhöhte, sehen wir, wo das Heil anfangen muß, wo auch unsere größte Noth ist, – an der Seele!

 2. Petrus hatte an seiner Fischerei einen göttlichen Beruf; aber wenn er ihn und die Gnade Gottes nach der Menge des äußeren Segens in jener Nacht hätte erkennen wollen, so würde er zweifelhaft geworden sein. Jeglicher Beruf, welcher nicht (wie z. B. der des Tanzgeigers) dem göttlichen Wort und Reiche widerstrebt, ist heilig an sich selbst und ein Trost der Seele, auch wenn man dabei darbt.

 3. Der Segen und das Maß des Segens im Zeitlichen ist des HErrn und über jeden Menschen verschieden. Es gibt mancherlei Maße der Gabe, aber einen Geber, – mancherlei Menschen, aber nur einen gnädigen HErrn. Nicht im Maße äußerlicher Fülle, sondern in der gewissen Botschaft von Seiner Gnade, die beßer ist als Leben, liegt unsre Freude. Was ist die Fülle des Gottlosen? Unsegen, wenn du’s faßen willst. Aber die Brotrinde des Gläubigen ist Segen und goldene Zeit, denn Glaube und Unglaube ändern alle Dinge nach sich selber um.

 4. Aeußere Fülle ist Segen, wenn die Erkenntnis

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/566&oldid=- (Version vom 1.8.2018)