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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am achten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 7, 15–23.

 SIe wollen es nicht haben, daß man auf die Verschiedenheit unter den Lehrern aufmerksam macht. Man soll alle gewähren laßen. Alle predigen Gottes Wort. Ruhestörung, Fanatismus muß es sein, wenn man irgend einen falschen Lehrer bei seinem Namen nennt. Allgemeines Mitleid wendet sich dem zu, welcher, sei es auch noch so gerecht, ein falscher Lehrer genannt wird. Es thut ja dem Manne so wehe, sich so genannt zu sehen! Ists auch einer, wills doch keiner heißen. Warum (?) denn dem Menschen weh thun? Thuts dir auch selbst wehe, wenn du einem andern, einem falschen Lehrer weh thust, durch Wahrheit: wer fragt nach deinem frommen Wehe? Im Gegentheil, es wird heißen: deine Bosheit ruhe nicht, du müßest dem Nächsten weh thun, wenn es dir gleich selbst weh thue. – Ach! wie zart geht man mit Joseph’s Schaden um, wie pflegt, wie hätscht man die tödtlichen Geschwüre, wie schaudert man vorm Arzte! – Eine wunderliche Zeit, die Person und Sache so trennt, daß sie die Sünden für Sachen nimmt, und dem Sünder seine Sache nicht entgelten laßen kann! Eine liebelnde – liebeleere Zeit!

 So war Paul Gerhardt nicht, der fromme Sänger, deß Lieder Liebe athmen, der in seinem Sang so ungestört von Haß in Liebe sich ergießen – und doch nimmer-, nimmermehr drein willigen konnte, falsche Lehrer um ihrer Lehre willen unangetastet zu laßen! Weil er liebt die Wahrheit, haßt er die Lüge. Das geht Hand in Hand. Weß aber das Herz voll ist, geht der Mund über. Wer schweigen kann vor der Lüge, ohne daß seine Gebeine verdorren durch sein Schweigen, der liebt nicht, liebt die Wahrheit nicht. Wer seine Brüder in Gefahr der Lüge sehen und schweigen kann, liebt weder Wahrheit, noch Bruder! Gleichgiltigkeit gegen Lehrer, falsche Lehrer, ist – erlaube, Leser! – ist Lieblosigkeit!

 Oder lehrt dies Evangelium anders? Will der HErr nicht Selbst, daß man die falschen Lehrer erkenne, also von den frommen Lehrern scheide? Scheidet Er sie nicht Selber? Wölfe – Dornen, Disteln, faule Bäume nennt Er die einen. Schafe – Weinstöcke, Feigenbäume, gute, fruchtbare Bäume nennt Er die andern. Jenen schreibt Er Raub, arge, giftige Früchte, – diesen Segen, köstliche Früchte, Trauben, Feigen zu. Heißt das nicht scheiden, heißt das nicht kräftig scheiden und mit scharfem Worte? Ist der liebreichste Menschensohn etwa wie die Kinder unserer Zeit? Hat der mitleidigste unter allen Menschen etwa unserer Zeiten eigennütziges Mitleid? Mit nichten! Feind ist Er jeder Verhüllung der seelengefährlichen Lehrer. Seine Hand reißt jeden Schafpelz ab! „Wer böse ist, der sei immerhin böse, und wer fromm ist, der sei immerhin fromm“, das ist Seine Regel. Harmonie des Innern und Aeußern, Ganzheit, Mannheit, kenntliche, deutliche Früchte will Er – und für das alles ein helles, vorurtheilsfreies, heiliges Auge Seiner Liebeskinder, Seiner Jünger! Offenen Kampf will Er, wie er zwischen Himmel und Hölle ist! – Kannst dus anders nehmen? Mir springt es so klar in die Augen, – ich sehe dabei die flammende Liebe und die leuchtende Wahrheit einig, und rühme die Wahrheit in Liebe, die Liebe in Wahrheit!


Am neunten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 16, 1–9.

 ANfangs des 15. Kap. wird uns erzählt, daß die Pharisäer über JEsu gnädiges Benehmen gegen die Zöllner und Sünder aufgebracht waren. Den Pharisäern zu Lehr und Strafe, den Zöllnern zu Trost und Ermunterung ihres Glaubens, erzählt hierauf der HErr im Fortgang des 15. Kap. von dem verlorenen Schafe, dem verlorenen Groschen, dem verlorenen Sohne. Damit aber die Zöllner Seine heilige

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/569&oldid=- (Version vom 1.8.2018)