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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

– er gleichet dem, der in Gesellschaft von Leuten ist, wo man eine fremde Sprache redet; es ist, als rede man von ihm und gegen ihn, oder als achte man sein nicht. Die Welt scheint nicht für ihn!

 Und der Himmel und sein Heer und sein HErr scheinen nicht für ihn. Der Heerschaaren Lobgesang, der Psalm der pilgernden Gemeinde, das Wort, das unsre Seelen selig macht, die Absolution, die uns erfreut in der Mühe und Angst der Welt, der Segen, der uns wie ein Schild des HErrn gereicht wird, uns zu decken vor Unfall, das Sacrament, welches durch Wort und Zeichen wird, – alles Heil scheint verschloßen dem Tauben, Stummen. – O wohl muß da das Erbarmen erwachen! Wohl soll man den Taubstummen zum Helfer bringen, und wäre er noch so weit! Und der Helfer, – wohl darf Er erbarmungsvoll seufzen und zum Vater aufschauen, denn es ist großes Elend, darüber Er Sich erbarmt.

 Und sieh, wie wunderlich hilft Er! „Er legt ihm die Finger in die Ohren, und spützet und rührt seine Zunge.“ Der Taubstumme weiß, daß er zum Helfer geführt worden ist: er fühlt die Finger, die Ohr und Zunge rühren, und den Speichel des HErrn. Dieses Fühlen zeigt ihm, daß der Helfer helfen will und Hand anlegt, und in ihm regen sich Hoffen und Glauben, sein Sehnen vereinigt sich mit des HErrn Wollen. So gespannt war seine Aufmerksamkeit nie, so ganz Ohr (wenn man das vom Taubstummen sagen dürfte) war er nie als unter den Händen und der Berührung des – Allmächtigen. Ja, des Allmächtigen in Menschengestalt, des Gottes, der Menschheit an Sich nahm, des Gottes, der gern in verständlichen Hüllen und durch kenntliche Mittel dem armen, unverständigen Menschen naht. Er hätte wohl ohne Seiner Hände Ausstrecken, ohne die Berührung Seiner Finger, ohne Benetzung Seines Speichels helfen können. Er hätte, ehe der Taubstumme kam, wollen können in der Heimlichkeit Seines Raths, und Gehör und Sprache würden dem Armen gekommen sein. Aber so will Er nicht. Er vereinigt Sich mit der Menschheit, um die Menschheit zu befreien, und theilt nun alle Seine Hülfe nicht ohne die Menschheit mit. Er zeigt die innige Vereinigung Gottes und der Menschheit in Seiner Person, und was aus der Menschheit in der Gemeinschaft werde, welch eine Trägerin und Offenbarerin Gottes die Creatur, welch ein herrlich Kleid Seines Wesens sie werden könnte. Es möge Ihm gelingen uns völlig mit Ihm zu vereinen, aus Himmel und Erde Eins zu machen, wie es im Anfang, ja mehr, als es im Anfang war.

 Und sieh, wie weiter! Die Berührung, der Speichel – sie bringen allein noch keine Hülfe, sie müßen erst mit Hülfe erfüllt werden. Sein Auge geht gen Himmel, Sein Herz seufzt und hebt den Stein des Uebels – und Hephata spricht Er, da ists gethan. Seine Werke geschehen durch Sein Wort. Das macht Seines Fingers Rühren, Seines Speichels Netzen zur gewaltigen Hülfe, gleichwie durchs Wort im Sakramente das Element zur Schechina, zur Hülle und Offenbarung Gottes wird. – Gelobt seist Du, o JEsu! wenn Du sprichst, Dich werden die Todten hören, warum sollen Dich die Tauben nicht vernehmen? Dich vernehmen sie! Deine Stimme ist bekannt! Erbarme Dich, sprich zu denen, die taub sind im Geiste, daß sie hören, und die nicht reden, wie Du und wie Dirs gefällt, die sprich an, daß sie lernen, was sie, wie der Taubstumme, nie gelernt, noch gekannt, reden, – vor Dir, in Dir, von Dir! Dann soll Dir im Himmel und auf Erden gesprochen werden, wie durch großer Waßer Rauschen der Lobgesang: „Er hat Alles wohl gemacht, die Tauben macht Er hörend und die Sprachlosen redend!“


Am dreizehnten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 10, 23–37.

 BRuderliebe und gemeine Liebe sind verschieden. Aber es kommt eine aus der andern. Doch kommt nicht die erste aus der zweiten, sondern die zweite aus der ersten, wie auch St. Petrus 2. Brief 1, 7 ausdrücklich sagt: „Reichet dar in der brüderlichen Liebe allgemeine Liebe“! Wer die erste hat, der wird die zweite zugleich haben, und es bedarf nur, daß sie ihm durch Gottes Licht gezeigt, durch Gottes Wort erweckt werde, damit er sie benütze. Die brüderliche Liebe aber ist nichts anders, als die Liebe

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/573&oldid=- (Version vom 1.8.2018)