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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 „Warum nennt David den Messias, welcher doch sein Sohn ist, seinen HErrn?“ Diese Frage legt ER Selber, Davids Sohn und HErr, Davids Messias, den Pharisäern und Schriftgelehrten vor. Ist es nicht eine interessante, reizende Frage? Sie handelt von der Person des Messias, von Seiner Menschheit, nach welcher Er Davids Sohn, von Seiner Vereinigung mit der Gottheit, nach welcher Er Davids HErr ist. Wäre ihnen diese Frage interessant gewesen, so würden sie von dem HErrn die Lösung des scheinbaren Widerspruchs zu ihrer Seelen Seligkeit erfahren haben. Aber nein, das ficht sie nicht an. Sie fragen Ihn nicht als lernbegierige Schüler. Wo sie nicht examiniren und versuchen können als Meister, wollen sie wenigstens durch Schweigen sich als Herren und Meister erweisen. – Sie werden freilich diese Frage nie an sich gethan haben. Pharisäer kramen gerne im Gesetz und damit es desto unterhaltender sei, in Gesetzen kleiner äußerlicher Art. Sie begehren nicht Gold- und Silberstufen auszugraben; sie waschen die kleinen Körnlein Goldes und deßen Staub aus den Bächen und wägen ihn unter viel Gewäsch. Die Gesetzesantwort JEsu von der Liebe und die Glaubensfrage von Seiner Person sind für Kleinigkeitskrämer nicht. Das schlägt sie zu Boden. Bei solchen Antworten und Fragen antworten und fragen sie nicht weiter; sie sind auf ein unheimliches, fremdes Gebiet versetzt.

 HErr, es muß doch alles vor Dir schweigen, was mit eigenem Witz vor Dich kommt. Du redest, wer will Dich meistern? – Laß mir die Frage heilig sein! Zur Versuchung des Frommen werde sie nicht gebraucht. Meine Fragen laß Gebete sein, Gebete um Weisheit, auf daß Du mir gebest, was ich bedarf, Licht und Recht, Lust und Kraft zu Deinem Wege! Ich will Dich fragen, antworte mir mit Gesetz und Evangelium. Und frage mich auch, auf daß ein Gespräch sei zwischen Dir, o Sonne, und zwischen mir, als einem Abendsterne, und ich in Deinem Lichte immer schöner prange, je näher ich dem Saume Deines Gezeltes und dem Anfang Deiner ewigen Ruhe komme! Amen.


Am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 9, 1–8.

 HEilung begehren die Freunde des Gichtbrüchigen für diesen. Vergebung der Sünden schenkt ihm der HErr. So gibt der HErr dem betenden Menschen oft etwas ganz anderes, als was er bittet. Menschen erkennen oft ihre nächsten Bedürfnisse nicht, aber das Auge des Herzenskündigers weiß, was wir bedürfen, und reicht uns oft dar, nicht was wir wollen, sondern was uns wahrhaft heilsam ist. Wie viele Kranke und Sieche seufzen Jahre lang nach Heilung – und der HErr antwortet ihnen immer nur mit dem Evangelium eines ewigen Friedens und ruht nicht, bis sich das Herz aus Seinem Worte zugleich Erkenntnis der größten Noth und Hülfe nimmt. Wir wißen oft nicht was wir bitten, – und müßen gar oft danken, daß wir nicht wörtlich erhört sind. Laßt uns dem HErrn danken für Seine Treue, bevor die Hülfe kommt.

 Laßt uns danken und nicht den Schriftgelehrten in der Lästerung nachfolgen. Sie sprachen vom HErrn: „Dieser lästert Gott“ weil sie mit Recht der Meinung waren, daß Sünden vergeben nur Gott zukomme, mit Unrecht aber der Meinung, daß JEsus nicht Gott sei. So fallen sie in die Sünde, deren sie den Heiligen Gottes bezüchtigen. Man könnte zwar sagen: „Eine Lästerung im eigentlichen Sinne begingen die Schriftgelehrten doch nicht, sie glaubten ja nicht, daß Christus Gott sei, sie hatten vielleicht nie daran gedacht, daß Er für göttliches Wesen gehalten werden müße“. Aber sind denn die Sünden verschuldeter Unwißenheit nicht auch Sünden? Konnten denn diese Leute nicht wißen, daß Christus mehr als ein bloßer Mensch war? Waren denn Seine Worte und Seine Werke bloß Menschenworte? Mußten sie nicht zugestehen, daß nie ein Mensch so geredet und so gewandelt und solche Thaten gethan hatte? Sein Gang war ja nicht in Finsternis, sondern Er leuchtete mit Seinem Lichte vor aller Welt! Darum hätten die Schriftgelehrten längst den Beweis JEsu von Seiner Gottheit sich selbst holen und nehmen können.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/579&oldid=- (Version vom 1.8.2018)