Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/580

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Welches ist leichter zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben? oder zu sagen: Stehe auf und wandle? – spricht der HErr. Was ist leichter? Offenbar eines so leicht wie das andere; zu beiden gehört göttliche Macht. Wer Eins kann, kann auch das Andere. Wer nicht in fremden, sondern im eigenen Namen – mit einem Wörtlein Kranke heilt, der ist mehr als ein Mensch. Das thut aber JEsus vor aller Augen so oft, die Ueberzeugung von Seiner höheren Abkunft hätte deshalb Schriftgelehrten, die Gottes Weißagungen von Seinem Sohne kannten, längst zugetraut werden sollen. Sie hätten Ihn kennen, Ihn der Lästerung nicht zeihen sollen, wenn ER, der kranken Leibern half und todte Leiber ins Leben zurückrief, heilende, am Herzen sich beweisende Gottesworte der Vergebung sprach.

 Darum laßet uns annehmen, was ER uns darbietet – Vergebung, und nicht lästern, wenn ER nicht gibt, was wir wünschen, – nämlich leibliches Heil. ER könnte auch dieses, weil ER jenes kann. ER will nichts weil es uns beßer ist im Kreuze bleiben. Laßet uns von innen heraus durch Vergebung genesen und leibliche Genesung Ihm und Seinen Stunden überlaßen. Wir ernten ja ohne Aufhören, auch wenn wir nicht ernten, was uns gefällt.


Am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 22, 1–14.

 ES war eine Zeit, da der Mensch rein und heilig war. Du kennst sie, lieber Leser. Zu jener Zeit war der Mensch vor Gott ohne Hülle durch anerschaffne Tugend Leibes und der Seele schön. Als aber die Sünde den Menschen überwand, da wurde Leib und Seele der anerschaffnen Schönheit verlustig, Leib und Seele freuten sich nicht mehr im lebendigen Gott, Leib und Seele waren vor Gott nackt und bloß und häßlich, und als Zeichen der Erbarmung schenkte Gott dem gefallenen Adam ein Kleid, und in selbsteigner Gestalt sollte der Mensch nicht mehr erscheinen. Die von Gott, dem HErrn, selbst eingeführte Kleidung redet deshalb mit stummen Lippen eine laute Sprache, sie redet von unserer Schande und Blöße vor dem Auge des Allerheiligsten und vom Bedürfnis einer von außen kommenden Zier und Schöne. In den Sitten der Morgenländer, wie der Abendländer hat sich dieser der Kleidung anhangende Gedanke mannigfach ausgesprochen. Wer im Morgenland ein Gastmahl gibt, reicht dem Gast beim Eintritt zum Hause ein Kleid. Wer das Kleid annimmt, ehrt den Gastgeber, als wenn er deßen Gerechtigkeit und Tugend anzöge und für sich zur Bedeckung für schön und wünschenswerth hielte; wer das Kleid nicht annimmt und mit eigenem Kleide am fremden Tische sitzen will, spricht gleichsam aus, daß er, so wie er ist, der fremden Speise werth sei, daß er nicht in fremder Güte und Tugend prangen müße, um am fremden Tische zu sitzen; er begeht einen Fehler der Rohheit und des Hochmuths und beleidigt seinen Wirth höchlich. Etwas Aehnliches ist im Abendlande die Sitte, daß die Diener im Kleide (der Livrei) ihrer Herren gehen. Der Herren Tugend und Ansehen geht auf die Diener über, sie gelten um der Herren willen und so viel, wie ihre Herren, werden mit ihnen geehrt und verachtet. Es ist im Morgen- und Abendlande das Kleid ein Sinnbild fremder Güte und Tugend, die uns zu Gute kommt.

 So ists auch in der Schrift. Der Sinn und Sprachgebrauch hat göttliche Einsetzung, und wird deshalb von Gottes Wort anerkannt. Erinnere dich zum Beispiel an jene schöne Stelle im Propheten Jesaias (61, 10), wo das Heil den Kleidern, die Gerechtigkeit einem Rocke, die Gnade Gottes priesterlichem Schmuck und bräutlichem Geschmeide verglichen wird. Erinnere dich vor allen andern Stellen an die heutige Gleichnisgeschichte. Ein Gast des HErrn wird in die äußerste Finsternis und Verdammnis hinausgestoßen: warum anders, als weil er sich für schön genug hielt, um dem HErrn bei Seinem Mahle im eigenen Kleide, d. i. in eigener Gerechtigkeit zu gefallen. Er hatte den HErrn beleidigt, der alleine die ewige Speise gibt und mit Seiner Gnade bekleidet alle Seine ewigen Gäste schauen will. Vor Ihm ist keiner heilig, als wer in Seiner Gnade lebt und in dies Bekenntnis Seiner Gnade sich einhüllt

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/580&oldid=- (Version vom 1.8.2018)