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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am vierundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 9, 18–26.

 LAß mich dir, lieber Leser, zu diesem Evangelio einige kürzere Gedanken geben; sie können dir Anlaß zu weiterem Nachdenken werden.

 1. In dem schlimmen Capernaum, welches der HErr mit Seinem schrecklichen Wehe belegte, gibt es doch noch etwas Gutes. Denk an den Obersten der Schule, denk an das blutflüßige Weib, denk an den Königischen, von welchem das Evang. des 21. Sonnt. n. Tr. erzählt. So schlecht ist kein Ort, in welchem das Evangelium erschallt, daß nicht einige Früchte empor kämen. Je weniger, desto köstlicher sind sie oft.

 2. Das schlimme Capernaum bietet den Anblick einer Einigkeit, welche man in vielen ihres Christentums wegen berühmten Orten unserer Zeit nicht findet. Diese Einigkeit erscheint demjenigen, welcher das Ev. vom 21. Sonnt. n. Tr. mit dem heutigen vergleicht. Der Königische, von welchem jenes redet, ist Capernaums weltliche Obrigkeit, der Schuloberste unseres Evangeliums ist die geistliche Obrigkeit des Orts. Beide glauben an unsern HErrn, beide erkennen Ihn für ihren einzigen Helfer. Ach, wenn diese Einigkeit in der Christenheit sich aller Orten fände!

 3. Es sind Beispiele eines starken Glaubens, welche unser Evangelium zeigt. Oder meinst du, es sei etwas Kleines für einen Vater, vom Sterbebette eines lieben Kindes wegzugehen, wegzugehen vom Kinde, wenn die letzten Athemzüge durch seine Lippen gehen? Welcher Arzt mit alle seinem Ruhm vermöchte es, einen Vater vom sterbenden Kinde zu trennen! Urtheilet, Väter, ob das nicht eine grosse Glaubensthat ist, hoffen, wo nichts zu hoffen ist, zum Helfer eilen, wenn die Zeit der Hülfe vorüber! – Das Weib hat nicht minder großen Glauben. Sie ist durch ihre Erfahrungen von zwölf Jahren auf der Sandbank der Verzweiflung niedergesetzt; sie hat nie Hülfe gefunden – und nun hoffet sie, und wie kühn hofft sie auf Hülfe!

 4. Neben dem großen Glauben hat das Weib doch auch einen großen Aberglauben, ihr großes Licht wirft einen starken Schatten. Daß sie des Kleides Saum ergreift, ist nicht Aberglaube. Gott hilft durch Mittel, warum sollte das Weib kein Mittel ergreifen? Aber das ist Aberglaube, wenn man glaubt, durch Seine Mittel ohne Sein Wißen, wider Seinen Willen etwas auszurichten – unbemerkt von Ihm, von Seines Kleides Saum zu genesen. ER thut alles – Mittel sind nur Mittel. Tritt betend zu Ihm – dann ergreife den Saum Seines Kleides. – Wie mancher Abergläubige mag um seines Glaubens willen Verzeihung seines Aberglaubens gefunden haben – und trotz des Aberglaubens Hülfe! Aber keiner vergeße, daß der HErr auch dem Weibe nicht erließ, vor Ihn zu treten und ihre Noth zugleich mit dem Danke zu bekennen.

 5. Was auf Erden Tod heißt, heißt im Himmel Schlaf. Es ist eine verschiedene Betrachtungsweise einer und derselben Sache von unten und von oben, welche den verschiedenen Sprachgebrauch erzeugt. Es geht ja sonst auch so! – Seine Gedanken sind nicht unsre Gedanken, weil Seine Wege nicht unsere Wege sind. Seine Wege sind uns unbegreiflich, darum auch Seine Gedanken. Wir müßen aus der heiligen Schrift die Sprache des Himmels und die Wege in ihm, von ihm zu uns, von uns zu ihm kennen lernen. Es ist alles bei dem HErrn so ganz anders und so gar viel schöner und beßer, als bei uns! Zeige uns, HErr, Deine Wege und lehre uns Deine Sprache, daß wir selig werden!

 6. „Sie schläft“ sprach ER. Was schließt der Unglaube daraus? „Sie war scheintodt – und ihre Auferweckung ist also kein Wunder.“ – Wie blind ist das! Kannst du die Scheintodten mit einem Wort aufwecken? Ists nicht auch ein Wunder Gottes? Was läge am Ende dran, ob das Mädchen von Capernaum todt oder scheintodt gewesen ist, wenn nur ER bleibt, was ER ist! Und das bleibt Er ja, weil Sein Thun so wie so Wunder ist! – ER bleibt Wunderbar, auch wenn Sein „Sie schläft“ auf einen ganz natürlichen, täglichen Schlaf hingedeutet hätte. ER sagt es ja, eh’ ER sie gesehen; so ist ER ja

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/584&oldid=- (Version vom 1.8.2018)