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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

allwißend und Gott – und was liegt denn am Wunder, wenn Er Gott ist. – Wenn ERs aber nicht gewußt, sondern nur errathen hätte, so hätten Ihn die Leute mit Recht verlacht, und aus Seinen Worten wäre dann überhaupt nichts, also auch nicht Scheintod zu schließen.


Am fünfundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 24, 15–28.

 ES beginnt schaurig kalt zu werden und die ganze Erde wird arm, denn es wird Winter. Gerne wendet man V. 20. auf unsern Winter an – und wir bitten, daß wir im Winter verschont bleiben mögen vor Unglück dieser Welt. Und doch, wenn in diesem Winter allerlei Trübsal nahen würde, wenn wir von der Hand des HErrn schwer getroffen würden, es wäre doch alles ganz anders, als in Judäa und Galiläa, als in dem gelobten Lande. Dort ist Winter, auch wenn die Lilien die Abhänge der Berge bedecken und das ganze Land dem Abendländer wie ein Paradies erscheint. Bei uns ist in höchsten Nöthen, im gewaltigen Winterschauer doch Sommer. Denn dort liegt noch der Fluch auf dem Lande, den Gott sprach, – bei uns heißt es: „ER wohnt unter den Lobgesängen Israels!“ – Kannst du dirs denken, wie Weihnachten sich ausnimmt, wenn es in einer schon wieder erwachenden Natur gefeiert wird. Mir scheint, als wäre Weihnachten weniger innig und heimathlich, wenn der Frühling ums Kripplein blüht. Je erstorbener die Außenwelt, desto heißer trifft der Strahl der unsichtbaren Gnadensonne. Wir sind beim Bewußtsein Seiner Liebe fröhlicher und frühlinghafter am Winterkripplein, als wenn die erneute Lust der Natur uns auf Berge und Auen locket. So gar kommt alles auf die Gewisheit und das Bewußtsein göttlicher Gnade an! – Es gibt kein Unglück, wenn man diese hat; sie ist beßer, als Leben. Aber wenn ein Mensch, ein Volk durch Verlust der Gnade zum Aase wird, und die Adler sich sammeln wider das Aas; da mag man im Tempel zu Jerusalem und auf Zion wohnen – es ist nichts, ja das ist Nacht und Jammer, und wer will retten, wenn Gott den Vögeln befiehlt, vom Fleische Seiner Feinde ein Mahl zu halten?


Am sechsundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 25, 31–46.

 MIt diesem Evangelio endet der Posaunenhall des Kirchenjahrs. Ein gewaltiger Schluß! Das tönt, wie wenn die Posaunen des jüngsten Tages zur Leichenfeier eines Jahres geliehen wären! HErr, wie schrecket uns Deiner Rede Ton, wie dringt er in die tiefsten Tiefen der Seele und legt bloß und unbedeckt vor das Licht des Gerichts, was verborgen war! – Du bist arm und ein Bettler auf Erden, sie achten Dein nicht. Aber die Armen, die Bettler, die Kranken, die Gefangenen, die Unglücklichen alle – die sind nur Gestalten Einer, nämlich Deiner allerheiligsten Person. In denen allen bist Du mir begegnet – und ich wußte es nicht! Ich wußte es und glaubte es nicht, – und aus Unglauben wußt’ ichs nicht. Darum that ich nicht darnach! Oder hab’ ichs ein Mal gewußt und geglaubt und darnach gethan – und tausend- oder zehntausendmal nicht! Es ist mir, als wäre es mir eine Lust, Dich zu ehren, – und wie habe ich meine Seele betrogen! Ich suchte Dich oft und fand Dich nicht, während Dein Seufzen und Weinen, Deine Blöße und Armuth, Dein Hunger und Dein Durst mir in viel tausend Gestalten begegnete und gleichsam um mich her wimmelte! Ich kannte Dich nicht und hätte Dich doch kennen sollen und können! Ich wollte für einen gelten, der Dich ehret, – und sieh, ich bin Dein schuldig worden durch Härtigkeit und Unbarmherzigkeit gegen Deine Elenden. Wenn ich nun sterben, außer dem Leibe wallen, vor Dich treten soll, wirst Du mich etwa dann auch nicht kennen? werd ich Dein Auge suchen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/585&oldid=- (Version vom 1.8.2018)