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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Sonntage nach Weihnachten.

Galat. 4, 1–7.
1. Ich sage aber, so lange der Erbe ein Kind ist, so ist unter ihm und einem Knechte kein Unterschied, ob er wohl ein Herr ist aller Güter; 2. Sondern er ist unter den Vormündern und Pflegern, bis auf die bestimmte Zeit vom Vater. 3. Also auch wir, da wir Kinder waren, waren wir gefangen unter den äußerlichen Satzungen. 4. Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz gethan; 5. Auf daß Er die, so unter dem Gesetz waren, erlösete, daß wir die Kindschaft empfiengen. 6. Weil ihr denn Kinder seid, so hat Gott gesandt den Geist Seines Sohnes in eure Herzen, der schreiet: Abba, lieber Vater! 7. Also ist nun hier kein Knecht mehr, sondern eitel Kinder. Sind es aber Kinder, so sind es auch Erben Gottes durch Christum.

 DIe Episteln der beiden Weihnachtstage sind beide aus dem Briefe Pauli an Titus genommen und haben, wie uns dargelegt wurde, nach Form und Inhalt eine unleugbare Verwandtschaft mit einander. Ebenso sind die beiden Episteln auf den heutigen Sonntag und auf den Beschneidungstag des HErrn aus einem und demselben Briefe St. Pauli, nämlich aus dem an die Galater, genommen und tragen gleichfalls Spuren der innigsten Verwandtschaft nach Form und Inhalt an der Stirne. Beide handeln von der Kindschaft Gottes, die wir armen Sünder in Christo JEsu erlangen, obwol ein jeder Text in einer andern Rücksicht. Beide setzen der Kindschaft den Zustand der Unmündigkeit entgegen, eine jede aber in einem andern Sinn. Während die heutige Epistel in dem Zustand der Unmündigkeit mehr auf die Unfähigkeit des Mündels hinweist, sein Erbe zu verwalten und ihn daher unter die Vormünder und Pfleger stellt; so zeigt uns die Epistel des Beschneidungstages den Mündel mehr als unerzogen, und stellt ihn daher unter den Erzieher. Und während jene den Zustand der Mündigkeit mehr in den Besitz des kindlichen Geistes und in den Antritt des Erbes setzt, zeigt uns diese den mündig gewordenen Christen mehr nach seiner Reife in der Erkenntnis und im Glauben. Beide Episteln schließen sich auf eine herrliche Weise mit denen der Weihnachtsfeiertage zusammen. In diesen sehen wir das Eigentumsvolk des HErrn in Seiner neuen Geburt und unter dem Einfluß der erziehenden Gnade; hier aber sehen wir dasselbe Eigentumsvolk nach seinem Sonst und Jetzt, und in seiner Reife für den ewigen Besitz einer großen Zukunft. Dabei stellen auch die Gleichnisse von Unmündigkeit und Kindschaft den Christen wieder in der Aehnlichkeit mit dem neugebornen JEsus dar. Wie die Evangelien der Weihnachtszeit den Lebenslauf JEsu von der jüngsten Kindheit bis zu Seiner Taufe und Seinen ersten Wundern verfolgen, so zeigen uns die Episteln das Eigentumsvolk des HErrn, wie es gewesen ist vor Christo, wie es geworden ist durch Christum, und wie es in Christo JEsu aus dem Zustand der geistlichen Kindheit immer mehr zu der männlichen Vollkommenheit reift. Neben der Geschichte JEsu sehen wir unsre Geschichte, unsern geistlichen Lebenslauf vor Augen gelegt. Und was nun insonderheit die beiden Episteln des heutigen Tages und des nächstkommenden Beschneidungstages anlangt, so geben sie ihren Inhalt so wunderlieblich und so nahe am Bilde des neugebornen Christus, daß man eine Weile denken kann, es sei von Christo dem neugebornen selber die Rede. Oder wer sollte nicht diese Bemerkung

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 052. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/59&oldid=- (Version vom 1.8.2018)