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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

allgemeine Elementarkenntnisse, Schulkenntnisse seien, daß sie noch gar nichts rechtes wüßten und hätten, Mündel seien, unter der Vormundschaft beschloßen, dem würden sie gedankt haben, wie sie auch wirklich St. Paulo bei seiner letzten Anwesenheit in Jerusalem dankten, nämlich mit Stürmen des mörderischesten Unmuths. Diesen Buben war es ganz anders gegangen, als andern Mündeln. Andre strecken sich nach dem, was kommen soll, und können diese Zeit nicht erwarten, die von dem Vater bestimmt ist; die aber hatten sich dermaßen in die Sklaverei ihrer Mündelschaft eingewöhnt, daß sie gar nichts wesentliches vermißten. Ihr lichtes Schattenreich mit seinen schönen Bildern war ihnen über alle Verheißung lieb geworden; das waren keine Anfangsgründe für sie, sondern die Summa aller Herrlichkeit und der Grund des gerechtesten Stolzes.

 Aehnlich war es mit den Heiden, von denen der Apostel allerdings nicht zunächst redet. Durch die Barmherzigkeit und Gnade Gottes sollten auch sie mit dem Volk Israel Erben werden der ewigen Verheißung, eingepflanzt und eingeleibt werden und aus zweien zu einem neuen Menschen zusammenwachsen. Auch ihnen sollten zur Zeit der Fülle die reichen Güter des Reiches Gottes ausgeantwortet, und auch sie mündig werden für den seligen Besitz. Bis zu der vom Vater bestimmten Zeit aber sollten sie ihre Wege gehen, suchen und forschen dürfen, ob sie den HErrn fühleten und fänden. Sie suchten auch und forschten, und auf dem Wege ihres Forschens und Suchens fanden sie allerlei Weisheit, welche bis zu dieser Stunde unter den Menschen einen hochberühmten Namen hat. Den HErrn aber, den einig wahren, will nicht sagen den dreieinigen Gott, fanden sie nicht. Kaum daß einer hie oder da die ewige Kraft und Gottheit, von welcher St. Paulus an die Römer spricht, ahnte, fühlte oder aus der Ferne erkannte; kaum daß man unter den Heiden irgend eines von den großen Räthseln des menschlichen Geistes und seines Wißens so gelöst hat, daß der Christ dazu Ja und Amen sagen könnte. Was sie nun fanden, was sie erkannten, kann man es gegenüber demjenigen, was uns in Christo geoffenbart ist, höher schätzen als dasjenige, was Gott seinem Volke als Vorschule der christlichen Religion offenbarte? Was ist größer und herrlicher, wahrer und schöner, die Weisheit der Griechen oder die heimliche Weisheit des Ebräers, von welcher der 51. Psalm spricht? Was wiegt mehr in der Wage des Geistes, der den Weg zu einem ewigen Glück sucht, und, für ein ewiges Leben geschaffen, auch nicht zufrieden werden kann, als bis er es gefunden hat? Kann man die Weisheit der Griechen oder irgend eines andern Volkes mit der Vorbereitung der Offenbarung Gottes im alten Bunde auch nur vergleichen? Wenn aber das ist, dann muß man ja eben so wol den Ruhm und Preis des Altertums und seiner Weisen unter die Elemente der Welt rechnen, als das, wovon zunächst St. Paulus spricht. So sehr sich auch der begeisterte Jünger des heidnischen Altertums dagegen sträuben und weigern mag, so hochmütig er höhne und verachte, der Christ wird doch nicht anders urteilen können, und die höchsten Gedanken des menschlichen Geistes manchmal vielleicht kaum werth achten, sie unter die Anfangsgründe des selig machenden Wißens zu zählen. Was der Jude von dem HErrn bekam, der Heide aber auf eignen Wegen suchte, es ist also alles mit einander der Menschheit in ihrem Zustande des unmündigen Wesens zuzuschreiben, auf alles paßen die Worte: „Auch wir, da wir noch unmündig waren, waren wir gefangen unter den Anfangsgründen der Welt.“

 Nun leben zwar wir in andern Zeiten; längst ist die Fülle der Zeit vorhanden und die letzte Stunde, – das Christentum ist weit verbreitet, und noch haben es die bereits vorhandenen kleinen Antichristen auch nicht auf einem einzigen Gebiete des Lebens dahin gebracht, allen Einfluß der allerheiligsten Religion zu vertilgen. Aber eine satanische Bemühung und ein abscheuliches Streben nach diesem Ziele hin ist da; und wenn auch das Böse den endlichen Sieg nicht gewinnen wird, so wißen wir doch, daß eine Zeit vorhanden ist, in welcher ein vorübergehendes Gelingen und eine Rückkehr zu den Elementen der Welt, ja zu den furchtbarsten Abwegen der Abgötterei und des Heidentums statthaben wird. Da Gott die Menschheit ihre Wege gehen ließ, damit sie Ihn suchen und finden sollte, verlegte ihr der Satan allenthalben den Weg, daß ihr ein reines Forschen gar nicht möglich wurde. Und wenn auch bisher das Ziel des Teufels und jener babylonischen Eintracht der Menschheit im Bösen nicht erreicht wurde, so wird doch das Böse, bevor das Gute seine ewigen Siege

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 054. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/61&oldid=- (Version vom 1.8.2018)