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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Und doch sind beide von einander sehr verschieden. Während der vorige Text die Zeit der Unmündigkeit als eine Zeit des Ausschlusses von dem väterlichen Erbe behandelte, erscheint sie in dem heutigen Texte mehr als eine Zeit der Erziehung und Vorbereitung für die Mündigkeit, als für eine höhere Lebensstufe. Während am vorigen Sonntage im zweiten Teil mehr die Erlösung hervortrat, tritt in dem heutigen Text und deßen zweitem Teile mehr die Rechtfertigung hervor als Pförtnerin zur Kindschaft. Und während in der letzten Epistel die Kindschaft selbst als ein Besitz des Geistes der Kindschaft und des göttlichen Erbes behandelt ist, sehen wir heute neben dem Erbe, welches auch in diesem Texte das letzte Wort ist, die Gemeinschaft der Gläubigen hervortreten oder den mystischen, geheimnisvollen Leib des HErrn JEsus, welchem ein jeder in Christo JEsu gerechtfertigte Mensch eingefügt und eingeleibt wird. Diese Verschiedenheiten haben wir in unsrem diesmaligen Vortrag besonders in’s Auge zu faßen, und ihr habt hiemit die Ankündigung des Inhaltes dieses Vortrags vernommen.

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 Ob euch dieser Inhalt Vergnügen macht, weiß ich allerdings nicht; ich fürchte, daß ihr lieber einen anderen Inhalt begrüßen würdet. Es ist ja Neujahr, und der Text klingt so gar nicht neujahrsgemäß, die Inhaltsanzeige aber entlockt ihm, wie es scheint, auch keine Seite, welche den beliebten und läuftigen Neujahrsgedanken entspräche. Dazu ist heute der Namenstag unsers HErrn; das Evangelium handelt auch von der Beschneidung und dem Namen JEsu, die Epistel aber scheint auch in dieser Rücksicht keine Verwandtschaft mit dem Evangelium und der Feier des Tages zu haben. Sie ist wol ganz offenbar mit der Epistel des letzten Sonntags verwandt und zwar ziemlich ähnlich, wie die Episteln der beiden Weihnachtstage unter einander verwandt sind; es ist daher auch im Allgemeinen etwas weihnachtsmäßiges aus dem Texte herauszufinden. Aber ein Neujahrstext, ein Beschneidungs- oder Namens-Jesu-Text ist es eben nicht, und so kann man auch keine Predigt erwarten, wie man sich dieselbe an diesem Tage wünscht. Indeßen, meine lieben Brüder, wäre es dennoch möglich, daß es anders käme. Es ist wahr, daß die Kirche ihr eigentliches Neujahr erst vor wenigen Wochen gefeiert hat und deshalb den Neujahrsgedanken, zumal wie man ihn gegenwärtig so gerne formt und haben will, nicht in den Vordergrund kann treten laßen. Doch hört man in unserm Texte von der neuen Creatur, und die stimmt, dächte ich, zum neuen Jahre gar wol und bildet den allerschönsten Neujahrwunsch, den es geben kann. Sodann handelt zwar allerdings der Text nicht von der Beschneidung, die mit Händen geschieht. Aber wie die zweite Weihnachtsepistel im Unterschied von der ersten nicht auf die erziehende, sondern auf die wiedergebärende Gnade hinweist, auf die Taufgnade; so weist der heutige Text bei seinem innigen Verhältnis zu dem des vorigen Sonntags nicht auf die erlösende, sondern auf die rechtfertigende Gnade und verlegt das große Werk dieser Gnade in die Taufe, von welcher die alttestamentliche Beschneidung nur ein Vorbild ist, während sie selbst in der heiligen Schrift die Beschneidung ohne Hände heißt und die Beschneidung des Herzens. Da entspricht denn allerdings die Epistel dem Evangelio vortrefflich, und wir feiern im Glanz unsrer eignen neutestamentlichen Beschneidung die leibliche Beschneidung unsers HErrn. Was aber die Feier dieses Tages als Namensfest JEsu anlangt, so bedarf es eben keines sehr scharfen Auges, um zu sehen, daß auch sie in unserm Texte gar wol berücksichtigt ist. Ich kann den Namen JEsus nicht höher ehren und nicht näher an mich ziehen, als wenn ich JEsum Christum selbst anziehe, gewissermaßen selbst JEsus werde, ja nicht bloß mit meiner eignen kleinen Persönlichkeit in JEsu Christo aufgehe, sondern auch die ganze Kirche in Christo JEsu aufgehen laße. Das aber geschieht gerade in unserm Texte. In einer sehr bezeichnenden Stelle desselben heißt es ja: „Alle, die ihr auf Christum getauft seid, habt Christum angezogen“; und in einer andern, nicht minder bedeutenden Stelle heißt es: „Ihr seid alle Einer in Christo JEsu.“ Da geht alles in Christo JEsu auf, die Person JEsu Christi und damit ihr heiliger, seliger, wundervoller Name wird in reichem Segen geschaut, wir selbst aber erscheinen von diesem Segen ganz eingehüllt und können das Lied des heiligen Bernhard von Clairvaux auf den Namen des HErrn JEsus mit großen Freuden singen. – Ich muß es euch gestehen, meine lieben Brüder, daß mir kein Name süßer und lieblicher klingt, als der Name JEsus. Es ist mir auch kein Name wichtiger und größer, und ihr werdet euch selbst erinnern,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 061. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/68&oldid=- (Version vom 1.8.2018)