Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/70

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und auszusetzen haben, vielleicht auch mit Grund. Laß nun aber heute einen Freier kommen und sie ehelichen, so wird aus dem Kinde auf einmal eine Frau, von der man verlangt, daß sie das Haus und ihre Mägde regiere. Und siehe da, man verlangt es nicht bloß, sondern sie thuts, sie kann’s. Von der man gestern behauptete, sie könne nicht gehorchen, geschweige regieren, die findet sich heute im Hausregimente und gehabt sich ganz wol. Ein Wendepunkt bringt Verstand. Darauf hofft nicht der Mensch allein, der sich wenden soll, darauf hoffen auch die Seinen, die ihn lieben, und diese Hoffnung macht die Wartezeit für beide Teile erträglich.

 Dieses Verhältnis des einzelnen Mündels, das Leben unter dem Hofmeister ist es, woran der 24. Vers unsers Textes erinnert, wenn er sagt: „Das Gesetz ist unser Zuchtmeister gewesen, auf Christum,“ Christus und das Leben unter ihm ist die Hoffnung, mit welcher sich die Heiligen Gottes unter dem Gesetz trösten. Das Gesetz selber mit seinen vielerlei, in alle auch die einzelnen Lebensverhältnisse verzweigten Satzungen und Mahnungen, von welchen Apostelg. 15, 10 sogar der heilige Petrus bezeugt, daß es ein Joch war, welches weder die alten Väter noch die Apostel tragen konnten, ist der unermüdliche Hofmeister, der gar nichts anders thut, als was er soll, wenn er ohne Unterlaß mahnt und krittelt und hofmeistert, und den Menschen mit sich und seiner ganzen Lage unzufrieden macht. Es soll ja auch kein Mündel mit seiner Lage zufrieden sein, der Tag der Lossprechung und des Eintritts in die christliche Freiheit soll ihm ein ersehnter Freudentag sein und einen neuen Lebensabschnitt bringen.

 Ausgedehnt auf viele Mündel erscheint nun dies Verhältnis im 23. Vers des Kapitels, in welchem der Apostel sagt: „Wir wurden unter dem Gesetz verwahrt und verschloßen auf den Glauben“, oder: „Wir wurden dem Gesetze zur Verwahrung überliefert und waren unter ihm miteinander eingeschloßen für eine zukünftige beßere Zeit, in welcher die Verheißung erfüllt, die Erfüllung im Glauben ergriffen wird und ein seliger Zustand der Freiheit eintritt.“ Da sieht man den Zuchtmeister des Einzelnen wie einen Sklavenwärter, der einen Haufen Sklaven zu bewahren, zu verschließen und so lange gefangen zu halten hat, bis Einer kommt und die armen Sklaven kauft und frei läßt. Es ist das für jeden Einzelnen ganz derselbe Zustand, wie der des Mündels unter dem Pädagogos, nur daß einerseits die große Zahl der Menschen von gleichem Loose, andrerseits aber die Hoffnung auf beßere Tage bestimmter hervorgehoben wird.

 Schon während wir das Gleichnis erläuterten, haben wir den Sinn desselben einfließen laßen. Es ist nichts anders damit angedeutet, als die Zeit der Erwartung Christi, während welcher Gott der HErr den Juden Sein reiches, mannigfaltiges und wunderbares Gesetz gegeben hat, damit sie sich in demselben üben, ihre Ohnmacht kennen lernen und je mehr und mehr für eine Zeit reifen sollten, in welcher man abstehen würde von dem gesetzlichen Treiben und eigenen Werken und seines Glaubens froh, gerecht und heilig werden. Diese Zeit des alten Testamentes ist nun allerdings vorüber. Niemand dringt mehr auf Erfüllung des mosaischen Gesetzes und Beobachtung seiner Satzungen; sogar der Jude kann im Grunde nicht mehr darauf dringen, weil das Gesetz außerhalb Palästinas und ohne die dortigen Lebensbedingungen und den Tempel gar nicht gehalten werden kann. Würde man aber deshalb, weil die Zeit der Vormundschaft der Welt nach Gottes Willen geschloßen ist, der Meinung sein, daß man nun gar nicht mehr von einem ähnlichen Zustande reden könne, so würde man sich eben damit keinem unbedeutenden Irrtum hingeben. Gott hat allerdings bereits die Zeit der Vormundschaft geschloßen, der Pädagogos oder das Gesetz soll die armen Menschenkinder nicht mehr für Christum aufbewahren, denn Christus selbst ist ja da, und die neue Zeit ist herein gebrochen. Allein wenn auch nach Gottes Willen die Zeit der Gesetzlichkeit vorüber sein soll, so hält doch oft der Mensch selbst sich auf dem Wege zum Ziele auf und verharrt aus eigner Wahl in einem Zustande, der ihm ebenso wenig von Gott auferlegt, als ihm selbst angenehm ist. Es kann ja kommen, daß einem Gefangenen die Erlaubnis gegeben ist, in die Freiheit zu gehen, daß ein Sklave nach seines Herrn Willen frei gelaßen werden kann und soll, daß aber der Gefangene den Kerker und der Sklave die Sklaverei nicht laßen will, und durch eignen Entschluß dasjenige festzuhalten streben, wozu sie keine Nötigung mehr haben. Man sieht ja das im Großen bei dem Volke der Juden, und wer etwas Entsprechendes bei den Christen suchen wollte, Würde nicht lange vergeblich

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 063. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/70&oldid=- (Version vom 1.8.2018)