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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

selber zu verstehen seien, auf denen unsre Zuversicht ruht. Wenn in dem 24. Vers der Eintritt in die Mündigkeit dadurch bezeichnet wird, daß der Apostel sagt, das Gesetz sei unser Zuchtmeister auf Christum geworden, daß wir aus dem Glauben gerechtfertigt würden; so ist da durch das Wort „Glaube“ wol die Zuversicht unsrer Seele bezeichnet, welche Glaube heißt, weil wir durch die großen Heilsthaten Gottes zwar versöhnt und erlöst, aber nicht gerechtfertigt werden konnten. Dagegen aber könnte man doch geneigt sein, in der erstgenannten Stelle, dem 23. Vers des Kapitels, mehr die Heilsthaten zu finden, welche die neutestamentliche Zeit charakterisiren und durch deren gläubiges Ergreifen man in den Stand der Rechtfertigung eintritt. Es mag nun jedoch damit sein, wie es will; ohne die großen Heilsthaten hätte unser Glaube keinen Grund, auf dem er ruhen könnte, und ohne Zuversicht der Seelen ruhen wir auf ihnen nicht und werden nicht gerechtfertigt. Beides gehört zusammen, nur daß wir um die Heilsthaten Gottes nicht zu sorgen haben, denn sie sind vollbracht, wol aber um die Zuversicht der Seelen, ohne welche wir weder gerecht, noch frei, noch Gottes Kinder werden.

 Das Wort „rechtfertigen“ ist eine Scheidewand zwischen der römischen und der lutherischen Kirche. Die römische Kirche übersetzt das griechische Wort wie ihre lateinische Uebersetzung, mit „gerecht machen“ und schreibt also dem Glauben eine den Menschen durchdringende, heiligende Kraft zu, vermöge welcher in ihm die sittliche Aenderung vor sich geht, welche wir Heiligung zu nennen pflegen. Die protestantischen Kirchen dagegen erkennen das Wort „rechtfertigen“ als ein gerichtliches an und verstehen darunter nichts anderes, als los und frei sprechen oder für gerecht erklären. In diesem Sinne aufgefaßt, hat das Wort mit der innern, sittlichen Veränderung des Menschen zunächst nichts zu thun, so wenig der protestantische Christ auch leugnet, daß der Glaube ein schäftig, mächtig Ding sei, welches den Menschen ändert. Es ist nun von dieser Aenderung im Worte nicht die Rede, sondern allein von einem richterlichen Urteil. Auf welche Seite, ob auf die römische oder die protestantische man zu treten habe, kann dem nicht lange verborgen sein, der allein die heilige Schrift zu Rathe zieht. Das Wort „rechtfertigen“ ist nach dem Sinne des heiligen Paulus jedenfalls ein gerichtliches Wort und steht der Anschuldigung und Anklage des Gesetzes und Gewißens gegenüber; wer sich davon überzeugen will, der lese nur einfach die Briefe Pauli. Nicht überall, nicht bei allen Aposteln und in allen Briefen sind die Worte „gerecht, Gerechtigkeit und rechtfertigen“ in gleicher Weise gebraucht. Auch in den Evangelien und in dem Munde JEsu sind die Worte „gerecht“ und „Gerechtigkeit“ nicht immer so gebraucht, daß man nur einfach den paulinischen Sinn unterlegen und immer für gerecht oder Gerechtigkeit sagen dürfte „gerecht aus Glauben,“ „Gerechtigkeit des Glaubens.“ Dieses große Wort, welches den Christen in seiner Gott-Wohlgefälligkeit bezeichnet, gleicht einer herrlichen Gestalt, die, von verschiedenen Augen angesehen, verschieden erscheint, während sie selber doch in allen Erscheinungen eine und dieselbe ist und bleibt. Jeder Apostel braucht das Wort, ein jeder in seiner Weise, aber alle verschiedenen apostolischen Auffaßungen laufen zum Ruhm und Preise der einen Gerechtigkeit zusammen. Keiner widerspricht dem andern, die Aussprüche aller harmoniren, und wer alle zusammenstellt, die Verschiedenheit und Einheit zusammenfaßen kann, der erst gewinnt den Vollgenuß, der vor Irrtum bewahrt und in allen einzelnen Stellen das rechte Verständnis anbahnt. Das aber ist gewis, daß die protestantischen Kirchen das Wort St. Pauli richtig auffaßen, wenn sie sagen: rechtfertigen heißt „den Sünder für gerecht erklären“; gerecht ist der Sünder, den Gott aus Gnaden um seines Glaubens willen für gerecht erklärt; Gerechtigkeit aber ist der Zustand eines Menschen, den Gott gerecht erklärt hat, es ist der Zustand des Glaubens, der gegenüber den Anklagen des Gesetzes auf die großen Thaten Gottes zur Erlösung der Menschheit, auf die Gnade in Christo JEsu vertraut.

 Denken wir uns einen Israeliten, der sich sein Leben lang bemüht hat, den Forderungen des göttlichen Gesetzes nachzukommen, oder auch einen andern Menschen, der so recht gewißenhaft dem Ziele der Heiligung nachjagt. Beide werden, je mehr sie sein wollen, wie sie sein sollen, desto ängstlicher sein, desto unruhiger, und über dem ewigen Mislingen ihrer ernsten Absicht und bei der täglichen Erfahrung ihrer Schwachheit und Bosheit wird sich in ihnen ein Sklavensinn ausbilden, ähnlich dem des Schulknaben, der unter der Ruthe steht, aber ganz das Gegenteil von jenem

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 065. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/72&oldid=- (Version vom 1.8.2018)