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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

fröhlichen, freudigen Sinn, den man mit dem Worte Kindschaft bezeichnet. Ob man den Menschen außerhalb oder innerhalb des Gesetzes sich denkt, ja sogar außerhalb oder innerhalb der Gnade, immer wird man zugestehen müßen, daß er nie in dieser Welt die Gerechtigkeit erlangen kann, welche mit Heiligkeit gleichbedeutend ist. Wer kann die Forderungen seines Gewißens zufrieden stellen? Kann ich aber mir selbst nicht genügen, wie soll ich Gott genügen? Finde ich an mir nichts als Flecken und Mängel, wenn ich mich mit dem finstern Laternenlicht meines Gewißens anleuchte: wie soll mirs gehen, wenn mich die Sonne des göttlichen Auges anscheint, und Er mich vor Gericht zieht? Ein Prediger muß Heiligung predigen und Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit entflammen; ein Christ muß nachjagen der Heiligung, ohne welche niemand den HErrn sehen kann, auch muß er gute Werke wirken, die ihm nachfolgen vor Gottes Angesicht. Aber wie man den Menschen zum Kindessinn, zur Freiheit und Freude der Kinder Gottes auf dem Wege heiliger Werke führen soll, oder wie einer auf diesem Wege sich selbst Ruhe, Freudigkeit und Zuversicht erarbeiten könne: das verstehe ich nicht. Ich weiß es wol, daß jede wol vollbrachte Aufgabe und jedes gelungene Werk den Menschen erfreuen, und daß ein gut Gewißen in Mitte der Menschen, ja unter Räubern und Mördern ein sanftes Ruhekißen sein kann. Aber wenn ich auch einmal etwas recht gemacht habe und darüber natürlich vergnügter bin, als im umgekehrten Falle, so ist das doch nicht der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft, und nicht die Freude des heiligen Geistes, sondern nur ein natürliches Vorbild oder ein Abglanz davon, der mir wie ein papierener Heiligenschein verraucht und vergeht, sowie ich vor Gottes Angesicht trete. Und wenn ich auch vor Menschen und gegen Menschen gut Gewißen und die Freudigkeit eines jungen Löwen hätte; wenn ich auch mit David meinen Feinden gegenüber beten könnte: „Vergilt mir nach der Reinigkeit meiner Hände;“ ja wenn ich selbst eine hohe Stufe der Vollendung durch die Gnade Gottes erreicht hätte, und mir die Liebe zuschreiben könnte, die des Gesetzes Erfüllung ist: es wäre doch alles miteinander nicht hinreichend, vor Gott zu stehen, vor welchem niemand ein gut Gewißen hat, vor welchem die Himmel nicht rein sind und seine Boten nicht ohne Tadel. Kurz, wenn ich Ruhe haben und mir der Sklavensinn vergehen soll, so nützt mir keine eigene Gerechtigkeit, und ich werde nimmermehr den Sinn eines Kindes Gottes und die Freudigkeit eines Menschen erlangen, der aus der Vormundschaft und in die Rechte der Kindschaft tritt, es sei denn, daß mich Gott rechtfertige und mir ein gnädiges Urteil der Vergebung meiner Sünden und in Christo JEsu Frieden und das Recht zuspricht, mich als sein Kind zu fühlen. Nur die Offenbarung der göttlichen Begnadigung, die Versicherung der Vergebung der Sünden und die Zurechnung der Gerechtigkeit unsres HErrn JEsus Christus kann meine Seele vor Gott stillen, mich im Leben und Sterben froh und freudig machen. So gewis es daher ist, daß uns Christus JEsus versöhnt und erlöst hat, und mir alles bereitet hat, was ich bedarf, so gewis ist es doch auch, daß niemand in die Schätze und den Reichtum der Erlösung und Versöhnung eintritt, außer durch die Rechtfertigung, und daß allein diese die Pforte unsrer Freiheit und der alleinige Grund unsrer Ruhe vor Gott ist. Der Augenblick, in dem wir von diesem Grunde weichen, stößt uns wieder in Unruhe und Unfrieden hinein; wir finden weder im Leben noch im Sterben einen andern Weg des Friedens und der Freudigkeit zu Gott, als den der Rechtfertigung. Daher sagt auch der heilige Paulus, das Gesetz sei unser Zuchtmeister gewesen, damit wir die Rechtfertigung aus dem Glauben empfiengen; wenn der Glaube an JEsum Christum und an die Rechtfertigung da sei, dann sei man nicht mehr unter der Pein des Zuchtmeisters; durch den Glauben würden alle Gottes-Kinder, und es kommt also auf gar nichts an, als darauf, daß man Glauben faße und die Rechtfertigung empfange. – Fragst du nun, wie und wo soll ich die Rechtfertigung empfangen, den Freispruch und das gnädige Urteil meines Gottes hören, so ist die Antwort leicht. Wozu hat denn der HErr im Himmel der Kirche Seine Taufe, Sein Wort der Absolution, Sein Abendmahl gegeben, wenn nicht zu dem Ende, daß Er ein Zeugnis seines gnädigen Willens gegen uns auf Erden gebe, und uns durch Geist, Waßer und Blut, also in dreifacher, wunderlieblich verschiedener Weise Eins bestätige, daß wir Seine Kinder und Er unser gnädiger Vater sei, der mit uns um unsrer Sünden willen nicht mehr rechten wolle, sondern Gnade für Recht

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 066. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/73&oldid=- (Version vom 1.8.2018)