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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ergehen laße. Der HErr hat gesorgt, daß uns Sein gnädiges Urteil auf mancherlei Weise zukomme, weil wir täglich viel sündigen, eitel Strafe verdienen, und tagtäglich die wiederkehrende Sünde und Sündenlust unsre Ruhe, unsren Kindessinn und unsre Freude zerstören will. Der immer neuen Störung gegenüber steht das immer neue göttliche Zeugnis von der Gnade Gottes. In unsrem Texte ist insonderheit die Taufe als Zeugnis der Rechtfertigung hervorgehoben, und zwar mit einem solchen Glanze, daß uns aller Zweifel vergehen kann. Ganz offenbar liegen in der Rechtfertigung zwei göttliche Handlungen vereinigt, nemlich Vergebung der Sünden und Zurechnung der Gerechtigkeit des HErrn JEsus. Sind uns die Sünden vergeben, so sind wir straffrei, aber den Ruhm, den wir vor Gott haben sollten, haben wir damit doch noch nicht. Ist uns aber die Gerechtigkeit JEsu Christi zugerechnet, so haben wir auch diesen Ruhm, und es fehlt uns dann nichts, um als Gottes Kinder von Gott und all den Seinen behandelt zu werden. Diese Zurechnung der Gerechtigkeit JEsu Christi erscheint nun aber in dem Verse unsres Textes im schönsten Glanze, in welchem es heißt: „Alle, die ihr auf Christum getauft seid, habt Christum angezogen.“ Was heißt das anders, als ihr seid von Christo bedeckt, wie von einem Kleide, in Ihn eingehüllt und strahlet von Seinem Glanze, so daß man nicht mehr euch sieht, sondern Ihn, und ihr nicht mehr behandelt werden könnt nach euerm Werthe, sondern nach dem Werthe Deßen, der euch deckt. Wahrlich, lieber als durch dies Gleichnis könnte uns die Taufe durch nichts gemacht werden, und herrlicher als auf diese Weise könnte die Gerechtigkeit Christi, die wir an uns tragen, nicht geschildert werden. Da ist es freilich aus mit aller Hofmeisterei, wenn man Christum an uns hofmeistern müßte, und da muß freilich selbst das göttliche Gesetz vor uns verstummen, weil Christus von uns wiederscheint. Da sind wir freilich Gottes Kinder, wenn der Eingeborne uns gegeben und zugerechnet ist, und kein Zweifel kann mehr sein, daß wir in der Freiheit stehen, wenn Gott selbst die Glorie des ewigen Königs uns beigelegt hat. Da können wir Ruhe und Friede haben, in allen Fällen des Lebens und Sterbens, aber auch merken und verstehen, daß das unterscheidende Merkmal des Volkes Gottes und der Vorzug, vor welchem alle andern Vorzüge erblaßen, die Rechtfertigung ist, die dem Glauben beigelegt wird.

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 Hier stehen wir beim dritten Teile des Textes. Denn in der That, nicht blos muß ein jeder Christ, der es weiß, was es um die Rechtfertigung ist, sie für den kenntlichsten Vorzug der heiligen Religion halten, die er in seinem Herzen trägt, sondern auch für denjenigen, vor welchem alle übrigen Vorzüge und alle Verschiedenheiten dieses irdischen Lebens erbleichen und vergehen. Wenn ich vermöge der Rechtfertigung Christum angezogen habe, dann fühle ich mich sicher vor allem Uebel, der göttlichen Gnade gewis, als ein Kind Gottes und als einen Erben der ewigen Güter. Und wenn ich rücksichtlich eines andern Ursache habe anzunehmen, daß auch er gerechtfertigt sei, dann erkenne ich ihn ebensowol als meinen Bruder, wie ich mich als ein Kind Gottes erkenne; weil er auch ein Gotteskind ist, muß er mein Bruder sein und eins mit mir in allem, worinnen die Einigkeit nothwendig ist. Die Rechtfertigung ist die gemeinsame Gnade aller gläubigen armen Sünder in Christo JEsu, durch sie und ihre heiligen Folgen werden sie vor Gott zu eitel Kindern, zu einer Familie, zu einem Volke, zu einer wahrhaft heiligen Kirche, welche mit der Sonne bedeckt ist, die JEsus Christus heißt. Warum bist du ein Bruder deiner geistlichen Brüder, fragte mich einer; meine Antwort war: Erstens, weil ich von Natur so elend bin wie sie, und sie wie ich; zweitens, weil ich durch die rechtfertigende Gnade in einerlei Glück und Seligkeit gesetzt bin; drittens, weil ich einerlei Geschäft der Liebe auf Erden und einerlei Hoffnung im Himmel habe; jedoch zunächst deshalb, weil ich einerlei Rechtfertigung mit ihnen besitze. Nun ist es zwar richtig, daß Gottes Freispruch im Himmel geschieht und im Herzen der Gläubigen versiegelt wird durch den Glauben, daß man Gottes eigne freisprechende Stimme ebenso wenig mit den Ohren hören, als die Versiegelung der Rechtfertigung durch den Glauben mit Augen schauen kann, – daß deshalb niemand auf Erden schwuresgewis weiß und versichern kann, ob und daß sein Nachbar gerechtfertigt, Gottes Kind und ein Erbe des ewigen Lebens sei, – daß daher die wahre Kirche Gottes eine unsichtbare Schaar ist. Allein dieser richtige Satz soll mir nicht dazu dienen, mich an allen meinen Brüdern irre zu machen und außer mir und um mich her keinen

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 067. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/74&oldid=- (Version vom 1.8.2018)